Schuldgefühle in neuem Licht
Saturday 10 December 2005
Sehr geehrte Frau Miller,
lange schon möchte ich mich einfach bei Ihnen bedanken und gestern habe ich Ihr Buch:“ Die Revolte des Körpers“ gekauft und diese mail adresse dort gefunden.
Beim Lesen habe ich dassselbe empfunden wie 1980 beim Kauf meines ersten Buches von Ihnen: “ Am Anfang war Erziehung“, das mir – als Lehrerin zunächst nur Ihre Theorie der schwarzen Pädagogik nahebringen sollte – plötzlich meine Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber in neuem Licht erscheinen ließen.
Den Satz Montaignes, den Sie hinten auf dem Umschlag hatten: “ Ich kann mir keinen schlimmeren Zustand denken, als bei schmerzerfüllter Seele ihr keinen Ausdruck verleihen zu können…“ hat mich seit 1980 begleitet, gemahnt, zur Therapie ermutigt – dennoch rannte ich wie blind durch die Jahre,stets traurig verheiratet mit meinem Mann, einem Arzt, der meinem Vater gleich denselben Beruf und dieselben Werte vertrat, wurde nach 20 jähriger Ehe geschieden, als er eine Frau fand, die ihn um seiner selbst willen liebte, arbeitete voll in meinem Beruf als Hauptschullehrerin und zog meine Kinder groß,eine Tochter und einen Sohn, die mich lieben – was ich nie zu verdienen glaube – trotz meines schweren Nervenzusammenbruchs genau mitten im Abitur meines Sohnes, womit ich ihnen sehr viel zugemutet habe.
Dass mich mit meinen Kindern eine innige lebendige und tiefe Beziehung verbindet, obwohl sie längst ihre Wege gehen , das danke ich der Arbeit an mir vor allem mit den Erkenntnissen in Ihren Büchern, darum schreibe ich Ihnen das.
Nun sind meine Eltern alt, 81 und 87 Jahre , wobei mein Vater mit sehr viel Liebe meine inzwischen gelähmte Mutter pflegt.
Trotz ihrer körperliche Schwäche scheint ihre Wut auf mich und mein Versagen aber nicht nachzulassen.
Wenn ich ihr heute sage, dass ihr Zorn gegen mich seinen Grund auch darin hat, dass sie mit ihren eigenen Schuldgefühlen nicht fertig wird – z. B. 1946 nach der Flucht im Hungerwinter , als sie mich kurz nach meiner Geburt im Säuglingsheim ließ wo ich fast gestorben wäre, weil ich das plötzliche Abstillen (und monatelange Verschwinden meiner Mutter wohl) nicht vertragen hatte – hört sie mir wohl zu, findet aber bald wieder einen Grund, das anders zu sehen.
Sehr schön erklärt ja auch Christa Meves , dass im 1. Lebensjahr die Fähigkeit zum Arbeiten und Lieben geprägt wird und ich bin sehr froh, dass so viele unserer jungen Generation dem liebevollen Hüten ihrer Kinder wieder einen so großen Stellenwert beimisst.
Danke für soviel wertvolle und einfühlsame Arbeit!
Ihre G.B.
AM: Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren offenen und so gehaltvollen Brief. Welches Glück, dass Sie trotz dieser schrecklichen Verlassenheit im ersten Lebensjahr Ihren Kindern Liebe geben konnten. Vielleicht half Ihnen die Tatsache, dass Sie immer schon davon wussten; es war kein Geheimnis; es war ein bekanntes Schicksal, durch äußere Umstände verursacht. So wurde Ihnen die Lüge erspart. Oder vielleicht zum Teil? Die Lektüre der Revolte mag Ihnen möglicherweise helfen, mit den Schuldgefühlen aufzuräumen, die Eltern wohl kaum. Haben Sie den Artikel über die Schuldgefühle auf dieser Webseite gelesen?