Etwas wird sich ändern
Friday 02 October 2009
Sehr geehrte Frau Miller, sehr geehrtes Team,
danke für Ihr Mitwirken an dieser Welt! Danke, dass Sie weiter Kraft und Energie geben, wenn man auch beim Lesen der vielen Briefe, die Sie zu beantworten sich bemühen, manchmal den Eindruck hat, sie kämpften gegen Windmühlen.
All Ihre Bücher haben für mich zur eindeutigen Quintessenz die Wahrheitssuche. Ich habe mich schon sehr früh in meinem Leben auf die Suche nach der Wahrheit gemacht. Ihr Werk ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg.
Ich erinnere mich, dass ich ein Kleinkind war mit dem Gefühl „hier stimmt was nicht“. Natürlich gelingt dem Kind nicht die Reflektion und es macht ein „ich stimme nicht“ daraus, womit es sich den Rest seines Lebens herumplagen kann.
Und hierzu möchte ich Ihnen gerne ein paar meiner Gedanken mitteilen.
In Ihren Büchern und den Leserbriefen sind Fälle von Kindesmisshandlung beschrieben, die entsetzlich brutal sind. Es ist schön zu lesen, dass Menschen dennoch geholfen werden kann wenn sie sich mutig dieser Grausamkeit stellen.
Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen, deren Geschichte nicht von solch drastischer körperlicher Misshandlung geprägt sind, gerne nicht dazugezählt werden möchten und aufatmen darüber, dass sie eine vergleichsweise gesunde Kindheit erlebt haben. Das führt aber zu einer Verharmlosung ihrer eigenen Symptome, bzw. wird dann nicht mehr der Zusammenhang erkannt. „Meine Eltern haben getan was sie konnten, ich will ihr Handeln nicht mehr als Ausrede verwenden. Ich bin ein erwachsener Mensch und muss nun selbst Verantwortung für meine Probleme übernehmen“. Dabei wird auf subtile Weise mit der „normalen“ Erziehung Tag für Tag das zivilisierte Elend unserer Welt weitergeführt und unglückliche Menschen herangezogen, die für alles anfällig sind was wir uns nicht wünschen. Es scheint dann noch einfacher zu sein, den „guten Willen“ der Eltern für ausreichend zu halten.
Die Erfahrung, die ich täglich mit Menschen in meiner Umwelt mache, zeigt, dass das Bewusstsein der Welt darüber in einem desolaten Zustand ist. Ich kenne niemanden, der nicht weiß, wie sich eine Depression anfühlt, mittlerweile ist das Gespräch darüber gesellschaftsfähig, die Medien haben auch dazu beigetragen.
Zwischenmenschlich leben die meisten Menschen Machtkämpfe, bei denen einer gewinnt und einer verliert. Im Beruf, in der Beziehung zu seinem Partner und zu seinen Kindern. Am langen Ende verlieren alle. Ihre Zufriedenheit, Freude am Sein, Fähigkeit zu lieben.
Menschen, die sich als „open minded“, dem Leben aufgeschlossen und kreativ bezeichnen würden, suchen das Weite wenn es um die Wahrheit über ihre Kindheit geht. Eltern, die ein vergleichsweise bewusstes Leben führen und reflektiert mit ihren Kindern umgehen wollen, brennen Tag für Tag gutmütig das Spiegelbild ihrer eigenen Neurose in das Kind hinein. Ich habe beobachtet, dass das Kind in der Regel mit etwa fünf Jahren die Persönlichkeit der Eltern weitgehend assimiliert hat und beginnt, diese sein eigen zu machen und weiter auszufeilen, unter Einbußung des bunten Fächers an Möglichkeiten seines eigenen selbst. Insofern schulen wir unsere Kinder bald berechtigt mit 5 Jahren ein, was derzeit noch etwas holprig von statten geht.
Ich begegne dem Kern diktatorischen Verhaltens, mitsamt der erduldenden Folgerschaft an einer Montessorischule und dem Samen faschistischen Denkens unter einer Gruppe Spiritueller, die die Erleuchtung zum Ziel hat.
All dies ist in jeder gesellschaftlichen Schicht zu finden und der einzige Grund weshalb diese Menschen nicht genügend Abstand zu irgendeiner Situation nehmen können um sie frei zu betrachten, ist die Verleugnung ihres eigenen alten Schmerzes.
Wie ist es möglich, dass so viele Menschen es vorziehen „blind“ zu bleiben?
Wie Sie auch schon bemerkten, hat sich unser gesamtes Weltsystem einen Zustand geschaffen, in dem der Einzelne umso mehr profitiert, je besser es ihm gelingt die Kindheitsgeschichte zu verdrängen. Sei es in dem westlichen Karussell der ziemlich austauschbaren beruflichen Karrieren und dem damit verbundenen Status und Ansehen, oder dem afrikanischen Modell, wo der Brutalste, sprich der Meistgefürchtete, eine Siegerposition einnimmt.
Mittlerweile ist es auch in Deutschland weit verbreitet in Therapie zu gehen, doch die meisten sind nur daran interessiert neue Instrumente zu erlernen, um den Schmerzkörper in Schach zu halten und damit noch weiter ihr Denken zu versteinern. (Ich benutze den Begriff „Schmerzkörper“ gerne, da Eckhardt Tolle die alte, im Körper gespeicherte emotionale Energie und deren Eigenleben meines Erachtens sehr gut beschreibt, allerdings werden Menschen die Erfahrung machen müssen, dass sein spiritueller Lösungsansatz nicht ausreichen wird um sich von diesem Schmerzkörper zu befreien).
Ich selbst bin von meinen Eltern nicht geschlagen worden. Jedoch haben sie meine Seele in „harmloser“ Art und Weise mit den Irrsinn des Konfliktes zwischen dem Gefühlten und dem Gesagten gebrandmarkt. Die Diskrepanz zwischen den ausgesprochenen Liebeserklärungen meiner Mutter und ihrer Ignoranz meinen wahren Bedürfnissen gegenüber war so groß, dass ich zeitweilig das Gefühl hatte verrückt zu sein. Ich war nicht in der Lage, wie meine Geschwister, die Rahmenbedingungen meines Lebens so zu schaffen, dass Ablenkung für mich funktionieren konnte. Ich hatte den Bezug zu mir selbst verloren, das Gespür für meine Bedürfnisse und den Glauben an meine Richtigkeit. Ich habe das Leben so kennen gelernt, dass ich mehrmals daran dachte es beenden zu wollen. Als ich selbst Mutter wurde, habe ich diese Möglichkeit aus einem erzwungenen Verantwortungsgefühl heraus gestrichen. Drei Jahre lang war auch ich kaum in der Lage einen wahren Zugang zu meiner Tochter zu finden. Obwohl ich mir die größte Mühe gab, warf ich mir vor, Schuld daran zu sein, dass sie in ihrer Entwicklung nie dem Durchschnitt entsprach und stets ein außergewöhnlich anstrengendes Kind war.
Jedoch war sie es, die mich dazu zwang mich mit mir auseinanderzusetzen, sie ist diejenige, die keine Lüge durchgehen lässt. Ich bin einen langen Weg zu mir zurück gegangen, mit und ohne Hilfe anderer und irgendwann weiß man, dass dieser Weg kein Ende hat. Ein großes Stück muss man gegangen sein, bevor man sich Thomas Gordons wertvolle Ratschläge im Zusammenleben zunutze machen kann. Meine Tochter ist heute immernoch ein wunderbar anstrengender Mensch, der stets von seiner Umwelt die reine Wahrheit fordert und mein Gefühl ist, dass wir gemeinsam die Kurve ins Leben nehmen konnten.
Ich möchte hiermit sagen, dass schon sehr viel weniger Grausamkeit ausreichend ist, um die kindliche Seele stark zu verletzen und einen Organismus auf (Selbst-)Zerstörung zu programmieren wenn kein helfender Zeuge anwesend ist.
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie wenig Menschen man im Leben begegnet, die ihr inneres Kind wiedergefunden haben oder gar behalten durften, kommt man sich vor wie in einer Welt voller Zombies.
Mich interessiert also, was muss passieren, dass Menschen überhaupt die Information suchen, die Sie so wertvoll in all den Jahren entdeckt und zusammengetragen haben. Was muss passieren, damit sie verstehen, dass jeder andere Versuch aus ihrer Misere zu kommen das Damokles Schwert nicht nehmen wird?
Ich bin sehr vielen Menschen begegnet, die auf der Suche sind. Sie sind unterschiedlich motiviert, aber sie suchen alle ihr Leben.
Aus meiner eigenen Geschichte abgeleitet, vermute ich, dass die Ignoranz deshalb so groß ist, weil
a) die „normale“ Erziehung „harmlos“ neurotischer Eltern bagatellisiert wird
b) die Suche nach wirklicher Heilung erst erfolgen kann, wenn der Leidensdruck größer wird als die Angst vor dem Schmerz (die einzig logische Konsequenz eines depressiv Leidenden, der keine Chance auf Heilung sehen kann, ist der Selbstmord, der relativ selten gewählt wird.)
Jemand der für sich die Arbeit tun will, die Sie als einzig heilsam ansehen, muss genügend Motivation finden um sich der Angst zu stellen. Solange ich irgendeine Form von Linderung in der Flucht davor finde, werde ich mich dem nicht stellen können.
Ich selbst habe die Konfrontation mit meinem Kindheitsschmerz teilweise so überwältigend und extrem erfahren, vergleichbar mit dem Gebären eines Kindes. (Und vielleicht wird hier ja wirklich ein Kind geboren, nämlich man selbst.) Wenn man als Mutter nicht wüsste, dass dieser Schmerz ein natürlicher Prozess ist, wäre er kaum zu ertragen, man würde dem Gefühl nach eigentlich den Tod erwarten.
Es braucht viel Kraft sich dem gegenüberzustellen und dann hinzugeben, der Alternative dazu muss man also höchst überdrüssig sein.
Ohne die Flucht in den Glauben an eine höhere Instanz nehmen zu wollen, Frau Miller, zeigt meine Beobachtung doch, dass es Entwicklungen gibt, die auf natürliche Weise dieser Ignoranz entgegenwirken zu scheinen. Es gibt statistisch nachweisbar immer mehr so genannte „Problemkinder“, die ihre Eltern regelrecht dazu zwingen sich mit neuen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Sie sind sensibel, auffallend empathisch, Kommunikation passiert bei ihnen nie rein verbal, Worte allein reichen nicht aus um sie zu erreichen. Sie haben eine außergewöhnliche Wahrnehmung ihres Selbst und wehren sich so vehement dagegen in die zivilisierten Schubladen gesteckt zu werden, dass die Eltern solcher Kinder gezwungen sind Hilfe aufzusuchen, denn diese Kinder funktionieren nicht im herkömmlichen Sinn. Man kann auch hier viele Umwege nehmen, doch diese Reise führt zwangsläufig zu der Auseinandersetzung mit sich selbst. Der einzige Mensch, der mir in dieser Problematik wirklich helfen konnte, war jemand der um Ihre Entdeckungen weiß.
Eine gewisse Entspannung stellt sich ein mit dem Wissen, dass letztendlich niemand an der Information, die Sie schenken, vorbeikommen wird, der sein Leben oder gar die ganze Welt verbessern will. Und dieses Streben, sein Leben zu verbessern, das hat Popularität erlangt. Die Masse an Ratgebern auf diesem Gebiet ist nie zuvor dagewesen und hat ihren Höchststand noch nicht erreicht. Es zeugt für vorhandenes Interesse. Wie das bereits vorhandene Interesse weiter mit wahrer Information genährt werden kann, scheint mir ein spannendes Unterfangen.
Die Studien die Sie über einige Massenmörder unserer Weltgeschichte geführt haben, bannen mein Interesse und ich wünsche mir, dass es den Menschen zu der Einsicht verhilft, die menschliche Gemeinsamkeit zwischen sich und einem Hitler erkennen zu können. In dem Moment, in dem sie ihn nicht zu einem Monster idealisieren, wird die Ursache greifbar und es könnte dazu beitragen, das sogenannte Böse in unserer Welt immer weniger heranzuzüchten.
Ich hatte in diesem Zusammenhang die Idee, Menschen in ihren Interessenwelten abzuholen und sie vielleicht auf diese Weise mit Ihren wertvollen Informationen zu versorgen. Während die breite Masse versucht, sich die Auseinandersetzung mit Hitler vom Hals zu halten, so idealisieren sie doch mit Leidenschaft Idole, deren Kindheit sich ähnlich grausam dargestellt hat, wie z.B. bekannt bei Michael Jackson, nur resultiert es hier in der unausweichlichen Selbstzerstörung. Wäre es nicht spannend, z.B. Michael Jackson, Elvis Presley oder Kurt Cobain von Alice Miller „erklärt“ zu bekommen? Ich könnte mir vorstellen, dass sich so etwas auch in der populären Presse platzieren lässt.
Natürlich würden mich Ihre Gedanken dazu brennend interessieren! Um die Vielzahl der Zusendungen an Sie jedoch wissend, verbleibe ich ungewiss mit den allerbesten Wünschen für Sie.
Herzliche Grüße, NJ
AM: Ihr Brief schwankt zwischen Zuversicht und Zweifel, was ich sehr gut nachvollziehen kann. Weshalb stoßen meine einfachsten logischen Forderungen, zB dass man Kinder niemals schlagen darf, auf so viel Widerstand? Einfach, weil das, was sehr früh im Gehirn registriert wurde (die Lüge, dass Schläge unschädlich seien), schwer auszulöschen ist. Und weil man sehr früh lernen musste, den Schmerz nicht zu fühlen, ihn zu verleugnen, und später vom verleugneten Trauma getrieben wird, dieses zu reproduzieren, an sich selbst und an anderen. Aber wenn Menschen wie Sie und einige anderen, die zu sehen und zu fühlen beginnen, immer wieder darüber schreiben, wird sich vielleicht mit der Zeit etwas ändern. Ich hoffe es zumindest.