Gründe für die Erwägung juristischer Aufarbeitung

Gründe für die Erwägung juristischer Aufarbeitung
Friday 28 July 2006

Guten Tag Frau Dr. Miller,

herzlichen Dank für Ihre prompte Antwort auf meine Anfrage vom 24. Juli 2006. Ich war ein paar Tage geschäftlich verhindert und habe erst heute Morgen die Zeit gefunden, auf Ihrer Website nachzusehen.

Sie raten mir, dass eine Voraussetzung für mögliche juristische Schritte gegen die Eltern ist, „dass Sie genau bei sich abklären, was Sie eigentlich möchten, welche Gefühle Sie leiten und was Sie daraus für sich erhoffen.“

Zusammenfassend kann ich sagen: Wie kann ich als Erwachsener dem kleinen Jungen, der von damals in mir steckt, deutlicher zeigen, dass ich ihm die nötige Geborgenheit und Rechtfertigung gebe, als wenn ich versuche, seine Verfolger und Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen?

Die Schwarze Pädagogik erscheint mir deshalb als Unrecht, weil sie aus der größenwahnsinnigen Einbildung lebt, man könne mit illegitimer Gewalt und tumben Lügen Gefühle, Neigungen und Begabungen ohne Nebenwirkungen manipulieren oder gar austreiben. Da wollen einst gedemütigte und nun überhebliche Gemüter Gott spielen. Das ist in großem Maße eine Frage des Rechts, – auch wenn das vordergründig nicht so erscheint.

M. E. werden Gefühle oder gar Teile einer Persönlichkeit abgespalten, wenn sie angesichts überwältigender Übermacht nicht existieren dürfen, – also keine Wirkung in der Wirklichkeit zeigen dürfen. Dies ist die Erfahrung von Ausweglosigkeit, – d.h. weder Kampf noch Flucht ist möglich. Die Abspaltung ist nun eine Fluchtbewegung in der Wahrnehmung, wodurch allerdings der Bezug zur Wirklichkeit verloren geht, was später Angst usw. macht. Will man diese Dissoziationen oder Abspaltungen – wenn auch verspätet – in die Wirklichkeit integrieren, so müssen ihnen neben Anderem die ehedem verbotenen Entfaltungen (= Wirkungen) zugestanden werden. Eine mögliche Art, das Recht auf Entfaltung wieder herzustellen, wäre die Wirkung durch Taten.

Zur Erklärung: Mein Problem sind seit Langem Angst und Wut. Ich weiß zwar, was seit meinem 4. Lebensjahr mit mir geschah, aber nicht davor. Jedoch weiß ich dass ich bereits damals im 4. Lebensjahr starke Ängste hatte. Ich hatte z.B. eine ungeheure Verlustangst, als ich in den Kindergarten sollte. Ich befürchtete panisch, nicht mehr nach hause zu dürfen und weigerte mich total. Die Folge war, dass meine Eltern mich wenig später zeitweise zu einem kranken Verwandten und dessen Frau abschoben, wodurch ich schwer an einer Lungentuberkulose erkrankte, die sich sekundär zu einer tuberkulösen Meningitis auswuchs, und mich 50 Wochen lang in Quarantäne und Kliniken verbannte.

Auch eine andere Angst scheint mir bemerkenswert: Es ist die Angst vor den Einsturz von Gebäuden. Ich wollte als Kind keine Gebäude betreten, in deren Mauerwerk Risse erkennbar waren. Ich hatte das atemraubende Gefühl, das Gebäude würde nach meinem Betreten alsbald einstürzen und mich lebendig begraben. Dieser Angst konnte ich als Jugendlicher begegnen durch Freeclimbing und Fassadenklettern. Sie hat sich heute gelegt, war aber im Vorschulalter markant. Ich vermute ein Schütteltrauma. (Vielleicht können Sie mir sagen, ob diese Vermutung berechtigt erscheint.)

Im Gegenteil dazu bin ich meine Verlustängste nie losgeworden. Sie scheinen mit dem Alter eher mehr zu werden. Nicht mehr befürchte ich, nicht nach hause zu dürfen, aber nach hause zu kommen und alles ist abgebrannt, zerstört und tot. Der Verlust lieber Menschen, lieb gewonnener Dinge oder auch meiner Gesundheit rangieren weit oben.

Nach der Zeit in den Kliniken hatte ich zunächst Probleme mit Wahrnehmungsstörungen. Aufgrund der starken Medikamente halluzinierte ich und hatte Albträume. Dennoch wurde ich mitten im Schuljahr nachträglich eingeschult und gleichzeitig brach immer stärker werdende Gewaltanwendung gegen mich aus, die physischer wie psychischer Natur war. Zwei Beispiele von vielen:

1. Meine Mutter schlug mir sehr oft aus nichtigen Gründen mit Händen, Fäusten und teilweise auch mit Gegenständen wie Büchern auf den Kopf, obwohl die Ärzte jede Gewalt gegen meinen Kopf verboten hatten. Damit konnte ich stark eingeschüchtert werden. Das Ganze ging mit endlosen Beschimpfungen einher, nebst der stets wiederholten Lebensprognose, ich sei ein sozialer Versager, würde niemals Freunde finden, solle am besten nie heiraten, weil ich sowieso bald wieder geschieden wäre, und würde elend und einsam sterben müssen.
2. Mein Vater prügelte mich mehrmals pro Woche, meistens auf Geheiß meiner Mutter. Der Vorwurf lautete stereotyp „Widerrede“, „Widerworte“ oder „Heftigkeit“. Eine Erklärung der Umstände, – also eine Verteidigung – war mir nicht erlaubt und führte zu einer drakonischen Erhöhung des Strafmaßes. Dadurch war ich der Fußabtreter der Familie und jede Anklage – meist Lügen – führten zwingend zu meiner Bestrafung. Damit rangierte ich ganz unten, – sogar noch weit hinter meinem fast vier Jahre jüngeren Bruder, der mich ebenfalls falsch beschuldigen konnte, wie er wollte. Genauso wie mir Verteidigung verbal verboten war, durfte ich mich auch nicht gegen andere Kinder zur Wehr setzen. Mein Vater bedrohte mich mit dem Tod, falls ich dem zuwider handeln sollte. Und er ließ diese Anordnung die Kinder in der Nachbarschaft wissen, so dass ich ein willkommenes Opfer jeder Art von Mobbing in Schule und Freizeit war.

Inzwischen gibt es Indize dafür, dass meine Eltern aus den Reihen der Verwandtschaft für ihre nachlässige Verantwortungslosigkeit, die zu meiner Erkrankung geführt hatte, kritisiert wurden und besonders meine ehrgeizige Mutter sich für ihren Gesichtsverlust an mir rächte. Aber lange Zeit konnte ich mir dies nicht erklären und verdrängte vieles. Andererseits war mir intuitiv klar, dass Unrecht geschehen war. Dennoch redete ich mir ein, im Großen und Ganzen doch ein anständiges Elternhaus gehabt zu haben. Gleichzeitig aber spürte ich eine immense Wut auf Menschen, die Macht über mich haben und sie missbrauchen. Auch die entsprechenden Machtphantasien habe ich bei mir beobachtet.

Ich bin zwar nie mit Gesetzen in Konflikt geraten, hasse aber alles, was z.B. Polizeiuniformen trägt. Polizei ist in meinen Augen der bewaffnete Arm einer abgrundtief verlogenen Politik. Willkürliche Verordnungen empfinde ich als Gesslerhüte und würde emotional am liebsten handeln, wie einst Wilhelm Tell. Als z.B. die Nachrichten berichteten, dass ein Gangster in eine Radarfalle geriet, umkehrte, die Polizisten tötete, um den Film zu entwenden, habe ich vor Freude in die Hände geklatscht. Solche Regungen machen mich anschließend betroffen, weil mir die Unverhältnismäßigkeit meiner Gefühle bewusst wird.

In Beruf und Ehe bekam ich Einblick in andere Familien, den ich als Kind, Jugendlicher und Studierender nie hatte. Ich bemerkte, wie signifikant anders die Menschen in diesen Familien miteinander umgehen. Ich hatte zuvor noch nie kennen gelernt, dass unterschiedliche Generationen auf gleicher Augehöhe kommunizieren.

Eine Reihe von Vorfällen in meinem Leben rissen immer mehr Verdrängtes stückweise aus finsteren Höhlen empor, bis ich dann aktiv nach der Wahrheit zu forschen begann. Lange befürchtete ich, dass meine „subjektiven“ Bewertungen falsch oder zumindest übertrieben sein könnten, weil ich immer alleine damit dastand. Ihr Buch, „Am Anfang war Erziehung“ zeigte mir schlussendlich, warum dies so ist, und, dass meine Eltern planmäßig und vorsätzlich vorgegangen waren, und dass sie dabei eine bestialische, menschenverachtende Ideologie als Vorlage genutzt hatten, die letztlich auch den Holocaust hervorgebracht hatte. Es handelt sich aus meiner Sicht um asymmetrische Kriegsführung gegen Schwächste aus niedrigen Beweggründen.

Damit erscheint mir meine Wut ihr eigentliches und berechtigtes Ziel gefunden zu haben. Ich mag aber niemandem den Kopf von den Schultern schlagen oder sonst auf unrechte Weise handeln. Andererseits drängt es mich nach Taten. Das Opfer will zwar nicht zum Täter werden und andere zum Opfer machen, aber es will sich spürbar wehren. Und dies kann m. E. gerechterweise nur juristisch und nur gegen die Eltern geschehen.

Eine andere Methode der Wirkung wäre die Veröffentlichung. Aber nach den neusten Rechtssprüchen würde ich mich damit eher angreifbar machen. So könnte ich nur damit drohen, um als Wirkung Angst auszulösen. Aber dies alles erscheint mir kein klar strukturiertes Handeln mit gegebenem Ziel und kalkulierbarem Gang zu sein.

Nun mag man einwenden, dass eine Gegenwehr nicht mehr erforderlich ist, weil keine unmittelbare Gefahr mehr von meinen Eltern ausgeht. Aber das ist nur bedingt richtig. Natürlich können sie mir heute kaum noch Gewalt antun – vor allem physisch nicht mehr. Aber die Folgen vergangener Gewalt sind als gesundheitliche Folgen der resultierenden Angst und Wut präsent und stellen durchaus eine Gefahr dar.

Das erneute Erleben und das emotionale Aufarbeiten des Zurückliegenden (aber noch nicht Vergangenen) und der Trost und die Geborgenheit für den kleinen Jungen von damals sind die eine Schiene. Sie wird von mir gelegt und ich erfahre Unterstützung durch meine liebe Frau. Die andere Schiene scheint mir zu sein, Rechenschaft zu verlangen. Und wie eingangs erwähnt: Eigentlich ergibt sich die zweite Schiene logisch aus der ersten; denn durch was könnte ich als Erwachsener dem kleinen Jungen deutlicher machen, dass ich ihm Geborgenheit gebe, als wenn ich bereit bin, seine Verfolger und Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen?

Seine Leiden zu rechtlich zu thematisieren und ihm eine Art Gutmachung zu erstreiten, wäre seine einstige Rechtlosigkeit aufzuheben, die Rechtlosigkeit der Eltern zu zeigen und ihm die Notwendigkeit einer Flucht aus der Wahrnehmung zu nehmen.

Das wäre die optimale Lösung in meinen Augen. Ob sie gangbar ist und letztlich juristisch erfolgreich, – das allerdings steht auf einem anderen Blatt.

Sehen Sie, Frau Miller, eine andere, vielleicht bessere Lösung? Oder haben Sie einen anderen Vorschlag? Oder sehen Sie eine Gefahr in einem solchen Vorhaben?

Vielen Dank im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen, E. C.

AM: Sie haben sehr deutlich Ihr Anliegen beschrieben, und ich kann Ihre Argumente gut nachvollziehen. Ich sehe nicht, weshalb Sie es nicht realisieren sollten. Was Sie schreiben, leuchtet mir ein. Es stimmt, dass Ihre Eltern im Moment keine unmittelbare Gefahr für Sie bedeuten, aber es stimmt auch, dass sie Zustände geschaffen haben, wie Ihre schwere Erkrankung, für die sie bisher noch nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Es ist ja die Regel, dass man den Eltern jedes Verbrechen verzeihen sollte, auch wenn es in Prozessen von Serienmördern sonnenklar wird, dass die Eltern durch ihre Perversionen einen vielfachen Mörder produziert haben. Die Richter denken niemals daran, diese Eltern zur Rechenschaft zu ziehen, und lassen sie unbestraft. Und ihre Kinder, die Opfer, sprechen noch von den Tugenden ihrer Eltern im Gerichtssaal und fragen sich nicht, warum sie denn gemordet haben. Auch Sie schreiben ja: „Dennoch redete ich mir ein, im Großen und Ganzen doch ein anständiges Elternhaus gehabt zu haben“. Doch Sie fügen immerhin hinzu: “ Gleichzeitig aber spürte ich eine immense Wut auf Menschen, die Macht über mich haben und sie missbrauchen. Auch die entsprechenden Machtphantasien habe ich bei mir beobachtet.“ Es ist gut, dass Sie jetzt bereit sind, Ihre Wahrheit zu fühlen und für sie zu kämpfen. Sie brauchen an Ihrer Seite einen klugen und unkonventionellen Anwalt, der auch den Mut hat, seine eigene Kindheit so zu sehen, wie sie wirklich war, und der nicht versucht, Sie zu entmutigen – aus eigenen unbewussten Ängsten. Aber das werden Sie vermutlich in Vorgesprächen herausfinden und sich mit solchen „Anwälten“ nicht binden.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet