Leiden ohne zu verstehen

Leiden ohne zu verstehen
Tuesday 03 November 2009

Liebe Alice Miller,
vor einiger Zeit schickte ich Ihnen einen Text, mit dem ich mich bei Ihnen bedanken wollte. Dieser Text (Angkor Vat) erzählt in Parabelform, wie ich immer wieder versucht habe, mit übermenschlichen Anstrengungen, das Bild meiner Mutter zu retten, vor allem aber wie ich immer wieder versucht habe, ihre Liebe zu gewinnen (und auch die Liebe anderer Menschen).
Das Stück entstand bereits vor mehr als zwanzig Jahren und ging jetzt in überarbeiteter Form in einen anderen Text ein, dessen Entstehung ich auch Ihnen zu verdanken habe: vor ca. drei Jahren habe ich begonnen, meine Lebensgeschichte zunächst zu skizzieren – aus den anfänglich 60 Seiten sind inzwischen fast 1000 geworden. Auch das schien mir wie eine unendliche Arbeit, ich häufte Erinnerungen auf Erinnerungen und stellte fest, daß diese Erinnerungen an kindliche und jugendliche Erfahrungen erstens ungeheure Auswirkungen in meinem späteren Leben hatten – und zweitens, daß diese früheren Erfahrungen, die ich beschrieb, ihre Ursachen hatten, die weit vor meiner Geburt lagen. Ich weiß nicht sehr viel über die Familien meiner Mutter und meines Vaters, denn meine Eltern erzählten nur wenig; aber das ist ja im Falle solcher Eltern typisch. Das Schweigegebot beherrschte alle und alles. Nur wenige Verwandte leben noch, die ich befragen konnte – da kam auch nur Zögerliches.
Ich habe versucht, intuitiv aus den wenigen Wissensbrocken die Geschichten meiner Eltern und Großeltern zu rekonstruieren. Zwei Dinge sind mir nun, da ich mit diesen Tausend Seiten langsam ans Ende komme, dabei aufgefallen: ich war erschrocken über die Grausamkeiten, die sich auf einmal durch Generationen zogen, über die Freudlosigkeit, die Gehässigkeit und gegenseitige Mißachtung und Unterdrückung. Natürlich hatte ich Vieles schon vermutet, aber erst in diesem Panorama der Quälerei über ein Jahrhundert wurde mir deutlich, wie entsetzlich in meinen Familien eben diese Grausamkeit und das Schweigen darüber wüteten. Ja, auch das Schweigen kann wüten…
Zum anderen erkannte ich aber auch, daß ich wieder einmal die Eltern entschuldigen wollte, indem ich ihre Kindheit untersuchte und damit nicht genug, auch die Kindheit und Jugend meiner Großeltern. Der Schwerpunkt verlagerte sich von meinen Leiden auf das der vorangegangenen Generationen.
In diesen Tausend Seiten beschreibe ich zwar auch, wie ich immer wieder versuche, mir ein Leben aufzubauen, Beziehungen aufzunehmen. Aber immer wieder scheitere ich, gebe auf, werde abgewiesen, noch bevor es überhaupt zu einem Erfolg im Beruf oder in einer Beziehung kommt – und dabei strenge ich mich an, wie ich es in jener Erzählung beschrieben habe, die ich Ihnen zuschickte.
Die Entdeckung, daß ich die Lieblosigkeit ganzer Generationen zu spüren bekam (das geht ja leider vielen so), hat auf der einen Seite eine Tür aufgestoßen. Vor allem nämlich habe ich mich meiner Mutter wie einer gnadenlosen Göttin ausgeliefert gefühlt. Durch drei Jahre des Schreibens fand ich endlich eine Freiheit, das zu artikulieren, die ich bei Beginn der Aufzeichnungen nicht hatte. Ich konnte endlich meinen Haß und meinen Zorn spüren – aber erst in den letzten Wochen mit unglaublicher Kraft artikulieren. Es entstanden Sätze wie “Die Mutter ist ein Schmerzgeschwader und ein Migränebrocken, die Mutter ist der Fleischwolf ihrer Kinder!”
Ich bin noch dabei zu erkennen, wie sehr mich meine Mutter in meiner emotionalen Entfaltung behindert hat. Mit meinen inzwischen 51 Jahren ist es mir noch nie gelungen eine Beziehung zu haben. Immer wenn ich mich verliebt habe, dann habe ich wie in der Angkor-Erzählung gearbeitet, geschuftet, geackert, um endlich Aufmerksamkeit und Zuwendung zu finden. Das ging mehrmals über mehrere Jahre, aber zu Nähe, Zärtlichkeit und wirklichem Vertrauen ist es nie gekommen, geschweige denn zu Sexualität. – Das alles wurde mir in den letzten Wochen klar wie nie zuvor. Einerseits fühlte ich mich befreit, aber andererseits beging ich die gleichen Fehler wie zuvor. Noch immer lasse ich mich von Ängsten in normalen Alltagssituationen übermannen und ziehe mich völlig zurück, fühle mich nirgendwo zugehörig (so ist mir auch nie beruflicher Erfolg gelungen; ich arbeite frei, könnte eine feste Stelle nicht ertragen). Vor allem aber machte mich eins stutzig: meinen letzten Liebesversuch unternah ich vor zwölf Jahren, seitdem scheue ich die Nähe der Menschen über funktionelle Alltagsbeziehungen hinaus wie der Teufel das Weihwasser. Durch Zufall aber erfuhr ich einiges über den Mann, in den ich mich damals verliebt habe und die alten Gefühle waren wieder da: vor allem das Gefühl: vielleicht wenn ich es jetzt versuchte, dann könnte ich es richtig machen, dann könnte er mich vielleicht doch lieben…
Tagelang war ich wie damals (seinerzeit über zwei Jahre) am Boden zerstört, aber ich ärgerte mich auch, daß ich wieder in der gleichen Schleife war, daß ich wieder da schuften und ackern wollte, wo es fruchtlos war – und daß ich mir die Schuld gab, ich sei eben nicht liebenswert, sei häßlich und abstoßend. Daß ich abstoßend sei, dieses Gefühl kam in allen meinen Verliebheiten wie ein Zwilling der Liebe gleich zu Anfang auf.
Jetzt aber stutzte ich und las noch einmal zahlreiche Ihrer Bücher. Ich hatte mich sozusagen auf die Ablehnung durch meine Mutter “kapriziert”. Mein Vater tauchte in meinen Empfindungen fast gar nicht auf: er hatte kein Interesse an mir – so sah ich es. Er lebt noch und es ist noch heute so. Wenn ich für ihn etwas koche, dann heißt es: das scheckt gut, genau wie bei unserer Mutter! Wenn ich mit ihm Ausflüge mache, dann höre ich: “Vielen Dank, so ging der Tag schneller rum!” – Es ist zum Schreien – ich habe den Kontakt abgebrochen. Mein vater hat sich nie für mich interessiert, wenn ihm etwas mißfiel an mir, dann schwieg er, er verstummte, mitunter über Wochen und Monate, sah mich nicht einmal an oder durch mich hindurch. Ein einziges Mal hat er mich geschlagen: aber widerwillig, dazu hatte ihn meine Mutter gedrängt. Sie, die mich gelegentlich schlug, wollte, daß so die “Strafe” mehr Gewicht bekam, wenn sie mein Vater ausführte. Eine andere aktive Grausamkeit (über die andere vielleicht die Schultern zucken): als ich mit 13 Jahren nicht versetzt wurde – das wußten meine Eltern durch die Benachrichtigung der Schule Wochen vor Schuljahrsschluß – forderte meine Mutter meinen Vater am Zeugnistag auf, vor meinen Augen eine kleine Sammlung von ca. 20 Comicheften, die ich vom Taschengeld gekauft hatte, vor meinen Augen demonstrativ zu zerreißen. Er tat das mit schlechtem Gewissen, meinte ich damals, denn er behauptete, es täte ihm mehr weh als mir – später steckte er mir ab und an ein neues Heft zu. Das sollte meine Mutter nicht merken.
Solche Erlebnisse scheinen mir erst heute ambivalent. Während meine Mutter mit größter Gehässigkeit gegen mich arbeitete, hat er sich für diese Gehässigkeiten einspannen lassen und mich nicht vor ihnen geschützt, obwohl er doch ahnte, daß sie böse und falsch waren.
Was sich bei solchen “kleinen” Erlebnissen zeigt, betrifft wohl auch sozusagen das Große meiner Gefühle. Ich scheiterte ja nicht nur an meiner Mutter, sondern auch an meinem Vater. Aber mit der “Konzentration” auf meine Mutter, mit der hatte ich eben “am meisten zu tun”, habe ich bei meinen Vater verdrängt und vergessen, was er mir durch Unterlassung angetan hat.
Inzwischen glaube ich aber, daß das ganze “Drama” noch einen Subtext hat; und der erklärt mir vielleicht, weshalb ich, wie oben berichtet, auch nach zwölf Jahren immer wieder versuche, dort Liebe zu finden, wo es sie nicht gibt.
Meine Mutter hat mir einmal mit Ekel und Abscheu entgegengeschleudert, daß sie selbst als ich noch ein Kindergartenkind war, gefürchtet habe, ich sei homosexuell. Deshalb habe sie versucht, mich mit Härte zu erziehen – aber das sei ihr “nicht gelungen”; sie sei wohl nicht hart genug gewesen. Sie hatte immer großen Abscheu vor meiner Köperlichkeit, ich war ihr nie sportlich genug, nie Junge genug: ich hätte eben keine Narben auf den Knien gehabt wie andere, ich sei deshalb zimperlich gewesen (ich wurde oft “Zimperliese” genannt). Daß ich erst mit sechs Jahren Fahrrad fahren konnte, war mein Fehler, ja selbst, daß ich nicht wie ein Junge im Fahren aufstieg, hat sie bemängelt. Usw. usf.
Gegenüber meinen literarischen und künstlerischen Ambitionen war sie mißtrauisch. Als es in meinem 16. Lebensjahr offensichtllich wurde, daß ich schwul bin, befürchtete sie sogar, ich könnte pädophil sein etc. Erst als ich sie mit vierzig Jahren und nach jahrelangem Kontaktabbruch
zufällig traf, konnte sie sich unter Tränenströmen dazu durchringen zu fragen: “Weshalb kommst du denn seit fünf Jahren nicht mehr nach Hause? Ist es noch wegen “der Sache” von damals. Wir denlen doch doch heute anders darüber…” – Aber da war es zu spät. Da saß ich längst in der Falle – und ihre Wortwahl allein zeigte, wie sie “tatsächlich” über “die Sache” dachte, das war nur ein hingeworfenes Häppchen, um mich wieder in ihren eifersüchtigen Einflußbereich zu locken, damit sie wieder heile (beinahe hätte ich gesagt “heilige”) Familie spielen konnte.
In meinem langen Text ist mir die dunkle und unendliche Kette schwarzer Mutterperlen: Ermahnungen, Beschimpfungen, Zurücksetzungen erst richtig klargeworden…
Meine Mutter wollte auch nicht, daß ich meinen Vater umarmte etc. – und solche Dinge machen mich endlich stutzig. Weshalb hatte sie eine solche Wut gegen Homosexualität und Homosexuelle? Hat sie das in meinem Vater gefürchtet und in mir bekämpft? Sie war immer ungeheuer eifersüchtig auf Bekannte meines Vater (FReunde hatte er nie), ja es gab selbst böse Auseinandersetzungen über Kollegen, die mein Vater in seinem Betrieb förderte. Ich vergesse nie eine Episode, die in hysterischen Weinkrämpfen endete und in tigerartigen Wutausbrüchen: mein Vater hatte sich mit einem Arbeitskollegen im Wohnzimmer eingeschlossen (sic!), angeblich, um mit ihm Betriebsgeheimnisse zu besprechen. Mein Gott, ich war zwar schon 13 als das passierte, aber noch ungeheuer naiv… Das gab Geschrei – aber nur bei meiner Mutter – Betroffenheit und Kuschen bei meinem Vater, tagelanges Eifersuchtsgeheul und Migräne…
Auf der einen Seite fürchtete meine Mutter also alles Männliche, mit dem mein Vater zu tun hatte, zog über Vorgesetzte und Kollegen her usw., auf der anderen Seite behandelte sie meinen Vater wie ein rohes Ei. Sie “liebediente” regelrecht, trug ihm die Schuhe hinterher, brachte ihm Jahrzehnte das Frühstück ans Bett, ohne daß er sich einmal revanchiert hätte.Aber sie kümmerte, machte und tat alles – und da fiel es mir auf: auch sie machte und tat alles wie der Erzähler in meiner Geschichte, genauso wie ich, wenn ich verliebt war… Aber sie wurde nie beachtet, nie wahrgenommen… Wenn mein Vater in welchen Tiefen auch immer latent (oder manifest) homosexuell ist (obgleich er sich auch immer abschätzig über Schwule äußert und damit auch abschätzig über mich), dann konnte er sie natürlich nicht so lieben, wie sie es sich gewünscht hätte. Und wie sie es gebraucht hätte.
Meine Geschwister und ich hatten sowieso oft die Ansicht, daß die Ehe unserer Eltern ohne Zuneigung und Leidenschaft wäre, und nur aus Gewohnheit fast 50 Jahre gehalten hat. Die Gewohnheit war auf Seiten meines Vaters – er hatte es bequem, meine Mutter rackerte sich für ihn emotional ab und auf und beklagte sich darüber weinend und greinend bei ihren Kindern. Wenn sie einmal vor meinem Vater weinte, dann kuschte der bald, zwar widerwillig, aber er fühlte sich schlecht und schuldig wie wir alle. Er war halt noch ein weiteres Kind in dieser Familie; so war ich als sein Sohn nur ein Rivale der Mutterliebe (er nannte seine Frau auch nur Mutter). Wie hätte er mich so auch als Vater sehen, anerkennen, lieben können.
Ist mein lebenslanger, nie erfüllter Wunsch, endlich einen männlichen Partner zu finden, deshalb sabotiert worden, weil ich einerseits immer die Liebe meiner Mutter vergeblich suchte und andererseits die meines Vaters sowieso nicht erhielt? Ja,noch einmal gleichsam verdoppelt: ging wie mir oebendrein noch wie meiner Mutter, die auch immer wieder die Liebe eines Mannes suchte und jedesmal scheiterte?! Entweder weil er eben doch nicht an Frauen interessiert war oder weil sie ihn wie ihr viertes Kind behandelte?! Sie suchte in meinem Vater den Mann, verachtete in ihm die Homosexualität und behandelte ihn wie ein Kind. Und weil sie dies nicht realisieren durfte, wie verfehlt sie sich ihrem Mann gegenüber verhielt, und da man ja den eigenen Lebenpartner nicht verachten darf, übertrug sie diese Verachtung auf mich – und mein Vater hat mich nicht geschützt davor, sondern mitgemacht, um den status quo einer verlogenenen Familiennormalität zu erhalten, aus Angst, aus Gewohnheit und Bequemlichkeit…
Stecke ich in diesen Verhaltensmustern, die auch mein ganzes weiteres Leben bestimmen? Ich glaube ja… Da ist immer der von Anfang an als vergeblich gesehene Wunsch, geliebt zu werden, da ist auch die Verachtung meines Körpers, meiner Gefühle und meiner Sexualität.
Die inzwischen Tausend Seiten habe ich nicht vergeblich geschrieben – daß ich dabeigeblieben bin, obwohl ich oft aufgeben wollte, habe ich auch Ihren Büchern zu verdanken. In den letzten Wochen, seitdem ich mich mit diesen Überlegungen beschäftige, wollte ich ein zweites Buch beginnen, in dem ich die Wut über meine Mutter – die in dem anderen Text erst zuletzt spürbar wird – über ihre Ungeheuerlichkeiten mit ungeheurlichem Zorn niederlegen wollte. Inzwischen sehe ich, daß ich auch Zorn über meinen Vater haben darf – das Verschweigen, Verstummen, Vertuschen, von dem ich anfangs erzählte, kennzeichnet ihn. Und da meine Mutter mich ja auch fern von meinem Vater gehalten hat, hat er bisher in der Aufarbeitung meines Schicksals nur eine geringe Rolle gespielt – vielleicht kann ich endlich einmal freier leben und vielleicht sogar ein freie Beziehung erleben, wenn ich diesen verlorenen Zorn auf meinen Vater wiederfinde.
Ich glaube sogar, daß der Kontaktabbruch zu meinem Vater zwei Seiten hat: einmal kann ich seine “Abwesenheit” und Gefühlskälte nicht ertragen und schütze mich davor (aber er hat ja seine Gefühle abgetötet, nicht ich, wie ja immer wieder explizit in meiner Familie behauptet wurde!); aber zum anderen schütze ich auch ihn vor der/seiner Wahrheit – denn mein Anblick konfrontiert ihn damit, so daß er sich in Banalitäten und Belanglosigkeiten flüchtet…

Jetzt habe ich wieder eine Abhandlung geschrieben – aber vielleicht nützt sie ja dem einen oder anderen Leser Ihrer Website. Die Erlebnisse der Kindheit und die Erinnerungen daran und ihre Auswirkungen aufs Leben sind zuweilen furchtbar miteinander verwoben…und es braucht tatsächlich ungeheuere Kraft und Durchhaltevermögen, sich ihnen zu stellen.
Beides fand ich aber immer wieder in Ihren Büchern. Dank dafür!

Herzlichst W.B.

AM: Ich bin froh für Sie, dass Sie sich, nach so vielen Jahren der Blockierung, Ihren wahren Gefühlen nähern können und Ihren berechtigten Zorn endlich spüren dürfen. Doch Ihre unendlichen Bemühungen, Ihre Eltern zu verstehen, scheinen diesen ZORN des KINDES, das ja nicht verstehen konnte und ununterbrochen Jahre hindurch leiden musste, immer noch zu blockieren. Denn das Kind musste leiden, ohne zu verstehen. Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, wie man so leben kann, aber Kinder haben keine Wahl. Erst als Erwachsene haben wir die Chance, unsere Gefühle zu verstehen und uns so von den Krankheiten zu befreien. Doch zuerst müssen wir diese Gefühle F Ü H L E N.. Wenn wir den Zorn fürchten und ihn deshalb mit dem Intellekt verhindern wollen, gelingt uns diese Befreiung nicht.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet