Die heilsame Lösung von den übermächtigen Eltern
Saturday 03 January 2009
Liebe Frau Miller, _____________________________________________________________________________________ Seit Mitte 1992 habe ich keinen Kontakt mehr zur gesamten Familie, weil jeder Kontakt neue Verletzungen brachte und ich immer wieder dastand mit meinen Ängsten, neuen Verletzungen und von neuem entfachter Wut. Unmittelbar vor Weihnachten 2008 meldeten sich meine Eltern in meinem Körper wieder, und das löste einen schwierigen Prozess aus, der mich aber letztlich zu einer großen inneren Befreiung führte. Vor Jahren bereits habe ich herausgefunden, dass das, was ich am meisten fürchtete, ich selbst bin, meine Gefühle sind, die ich nie haben durfte.Als Kind durfte ich nicht fühlen, nicht wahrnehmen, nicht sprechen, schon gar nicht eine Meinung haben. Ich hatte blind zu gehorchen, alles geschehen zu lassen, nichts in Frage zu stellen, durfte mich in keiner Weise bemerkbar machen. Ich hatte verfügbar zu sein, lautlos, willenlos und schmerzunempfindlich. Mein Vater wollte starke, harte Menschen aus uns machen, die jeder Gefahr trotzen und sich behaupten konnten. Dennoch hatte es ihn stets zur Weißglut gebracht, dass ich nicht sprach. Später – so mit ca. 13 oder 14 Jahren – sprach ich auch in der Schule nicht mehr. Ich musste dort hingehen, wo hätte ich auch sonst hingehen sollen an den Vormittagen? Aber ich hatte an nichts mehr teilgenommen, hatte mich total verweigert, gab keine Antworten mehr; ich war eigentlich auch gar nicht da, hatte mich längst unsichtbar gemacht, mich aufgelöst.Dafür fing ich in eben diesem Alter an, fremde Kinder zu verprügeln, die es wagten, “unseren” Dorfspielplatz zu betreten. Das wurde nun meine “Sprache”. Aber es währte nur kurz, denn dafür wurde ich zu Hause bestraft. Also vergrub ich alles tief in mein Innerstes.Meine Mutter half nicht. Für sie war es bereits eine herbe Enttäuschung, dass ich ein Mädchen bin. Sie hat insgesamt kein gutes Frauenbild. Für sie sind Frauen unbedeutend, Dienerinnen der übermächtigen Männer; die haben das Sagen in der Welt. Außerdem vermittelte sie mir seit je her, dass ich Schuld sei an allem, worunter sie in ihrem Leben litt. Ich hatte das damals geglaubt. Damals trug ich die ganze Schuld dieser Welt auf meinen Schultern. (Könnte es sein, dass ich mich aus diesem Grunde heute noch für so vieles zwar nicht mehr schuldig, aber dennoch verantwortlich fühle? Da habe ich meine Antwort!) Ich war ca. 25 Jahre alt, als ich zum ersten Male – und ganz erstaunt – feststellte, dass ich gerne lache. Erst mit Anfang 30 – nach der Lektüre von “Am Anfang war Erziehung” – wurde mir erstmals bewusst, dass ich eigene persönliche Bedürfnisse und Wünsche hatte; und mir wurde bewusst: Die DARF ich sogar haben!Das kann man gar niemandem erzählen, das würde niemand glauben – außer so manch einer der Leserinnen und Leser, die sich auf Ihrer Website zu Wort melden. Kürzlich sagte jemand zu mir, dass es etwas in meiner Vergangenheit gegeben haben muss, was mir geholfen hat. Diese Aussage hat etwas in mir angestoßen und einen Prozess ausgelöst, einen inneren Kampf. Ich habe mich hingesetzt und alles aufgeschrieben, was mir durch Bauch und Kopf ging. Den ganz wichtigen Teil in meinen Aufzeichnungen möchte ich gern wiedergeben. Es war der Höhepunkt, dem sehr schnell die Befreiung folgte: “Ich kann mich daran erinnern, dass mein Vater bis ca. zu meinem 3. Lebensjahr auch manchmal freundlich zu mir sein konnte und er mich im Gegensatz zu meiner Mutter nicht von vornherein abgelehnt hatte. Diese Erinnerung an einen teilweise freundlichen Vater bereitet mit im Moment fast körperliche Schmerzen, erzeugt Abwehr und Ekel in mir. Und eine maßlose Wut! Am liebsten würde ich alles zerschlagen, alles, egal was! Ich kann nicht, ICH WILL den Gedanken NICHT ertragen, dass mein Vater, dieses Ungeheuer, das mich geprügelt hat bis ich humpelte (als 3-jährige, weil ich eine auf den Boden geworfene Zeitung nicht wieder aufheben wollte; weil man Kindern den Willen brechen muss), dessen Ledergürtel bis weit ins Jugendlichenalter Striemen auf meinem Körper hinterlassen hat, die ich wochenlang verbergen musste, weil ich mich so schämte, dass so ein Schwein etwas getan haben könnte, was letztlich gut für mich war und mich vor noch schlimmeren Folgen dieses erschreckenden “Elternhauses” bewahrt haben könnte. Ich will das nicht! Ich will diesen Vater nicht, diese Mutter nicht! Mir wird übel bei dem Gedanken, dass ich Eltern habe. Ich will überhaupt keine Eltern haben! Ich wünschte, ich wäre nur aus mir selbst entstanden und nie ein Kind von Eltern gewesen! Ich möchte diesen Menschen NIE WIEDER begegnen. Ich hasse sie so! Ich möchte ihnen nie wieder begegnen, weil ich sonst befürchten müsste, dass ich ihnen an die Gurgel gehe und so lange zudrücke, bis sie unter meinen Händen zu Staub zerfallen wie Vampire im Sonnenlicht.Könnte es dennoch einen Teil in mir geben, der meine Eltern noch schützt? Oder ist es der Wunsch, sie bestrafen zu wollen und fühle ich so was wie Ohnmacht, weil sie sich ja gar nicht bestrafen lassen? Wenn es tatsächlich mein ohnmächtiger und entschlossener Wunsch ist, meine Eltern zu bestrafen, dann bin ich doch noch gar nicht frei von ihnen. Es kommt mir vor wie eine Sucht.Meine Eltern haben mir nicht das Rüstzeug dafür gegeben, später verantwortlich handeln zu können. Ich war nicht fähig, das allein zu lernen. Dafür wird mein Hass sie bis an das Ende aller Ewigkeiten verfolgen! Dass ich mich von ihnen getrennt habe, reicht mir nicht, denn ich habe keine Ahnung, ob sie darunter leiden. Und ich will, dass sie leiden, sie sollen fürchterlich leiden! Wäre es besser, die Verantwortung für eigene Fehler ganz allein zu tragen, ohne diese auf die Eltern zu schieben? Könnte das mein Fehler sein? Muss ich mich davon lösen? Es würde endlich auch die letzte Verbindung zu meinen Eltern lösen!Mein Bauch ist im Moment ganz still. Nicht stumm, einfach nur still. Fühlt sich wie Zustimmung an.” Das war es, was mich bisher noch quälte. Die volle Verantwortung für eigene Fehler übernehmen. Im Grunde genommen habe ich mich selbst bestraft, hasste mich für begangene Fehler, schob die Verantwortung dafür auf meine Eltern. Deshalb wohl auch dieses Suchtgefühl. Dieses letzte Bindeglied an meine Eltern, meinen Selbsthass, den habe ich nun ziehen lassen. Und mit ihm die Schuld, die ganze Schuld dieser Welt, die ich nun von meinen Schultern geworfen habe.Dieses Übelkeit erregende Gefühl, dass ich meine Existenz bedauerlicherweise mit Eltern in Verbindung bringen muss, habe ich noch nie gespürt. Das hat nichts mit Sexualität zu tun. Ich will einfach keine Eltern haben. Sie sollen verschwinden, sollen meinen Körper verlassen, restlos, damit ich sie nie mehr fühlen muss.Ich glaube, ich habe meinen Zorn noch nie so massiv gefühlt wie in dem Moment, als ich diese totale innere Verweigerung spürte. Im Bewussten sind mir meine Eltern schon seit einiger Zeit so gleichgültig wie ein Staubkorn auf der Straße. Doch diese Wunde war nur oberflächlich vernarbt; mein Körper war noch nicht fertig mit ihnen. Und ich konnte mir nie verzeihen. Diese Wunde eiterte noch. Nun können beide heilen.Und sich selbst verzeihen können hat mit Eigenverantwortung zu tun und nichts, aber auch rein gar nichts mit Vergebung der Eltern. Wichtig aus diesem Prozess ist für mich außerdem, dass die seltenen Momente, in denen ich vielleicht ein wenig Freundlichkeit von meinen Eltern erfahren habe, unbedeutend geworden sind, das hat mein Körper mir unmissverständlich zu verstehen gegeben. Freundliche Momente können nicht aufwiegen, was mir an Schrecklichem zugefügt wurde. Sie waren eher eine Behinderung in meinem Heilungsprozess, weil ich hinter diesen wenigen Momenten die ganze Grausamkeit meiner Eltern verstecken konnte. Ich habe keine Veranlassung für Dankbarkeit ihnen gegenüber.Meine Eltern haben ihre Macht verloren. Ich glaube, kein verletztes Kind wird diese einmal erfahrene Macht gänzlich ausmerzen können, weil die eigene Abhängigkeit von und die Angst vor den Eltern einst so real und berechtigt waren, und weil der Körper sich alles merkt, unauslöschlich. Aber die Angst löst sich auf, und sie kann den Weg in ein eigenes verantwortungsvolles Leben nicht mehr behindern. Liebe Frau Miller, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Einen ganz lieben und besonderen Gruß an Sie und an die Verfasserin des Leserbriefes vom 16.03.08 mit dem Titel “Sackgasse trotz Fortschritten?”, der mich sehr berührte und der mich begleitet hat in diesem Prozess. Ihre Website ist meine Therapie. Ich lerne so viel von Ihnen allen
AM: Vielen Dank für Ihren Beitrag. Sie schreiben: “Freundliche Momente können nicht aufwiegen, was mir an Schrecklichem zugefügt wurde. Sie waren eher eine Behinderung in meinem Heilungsprozess, weil ich hinter diesen wenigen Momenten die ganze Grausamkeit meiner Eltern verstecken konnte.”
Das wird vielleicht nicht jeder sofort verstehen, weil die Psychoanalyse, die traditionelle Moral und die Religionen das Gegenteil predigen: sich an dem Zipfel des “Guten” zu halten und die Grausamkeit der vielen Jahre zu vergessen, auch wenn man dies mit Krankheiten bezahlen müsse. Doch mir leuchtet es sehr ein, dass Ihnen die alte Erinnerung eine Befreiung bescherte. Denn Sie wussten, dass Sie nicht mehr imstande war, Ihre mit Schmerzen teuer erkannte Wahrheit erneut zu vernebeln, Sie sehen heute Ihr Leben so, wie es war, und DAS gibt Ihnen Halt. Sie brauchen keine neuen Illusionen.