Gedächtnis

Gedächtnis
Tuesday 24 June 2008

Liebe Alice Miller,
im Vorwort des Buches „Gedächtnis“ vonLarry R. Squire und Eric R. Kandel (Nobelpreisträger) steht: „Wir sind,wer wir sind,weil wir uns an das erinnern können,was wir gedacht haben.Wie wir in den folgenden Kapiteln zeigen möchten,verdanken wir jeden Gedanken, den wir haben, jedes Wort, das wir sprechen, jede Handlung, die wir ausführen-sogar unser Gefühl für uns selbst und unsere Verbundenheit mit anderen-, unserem Gedächtnis, der Fähigkeit unseres Gehirns, unsere Erfahrungen aufzuzeichnen und zu speichern. Erinnerungen sind der Kitt,der unser geistiges Leben zusammenhält, das Gerüst, das unsere persönliche Geschichte trägt, und sie sind es, die uns ermöglichen, im Laufe des Lebens zu wachsen und uns zu verändern.“Und:“In den letzten beiden Jahrzehnten hat eine Revolution stattgefunden,was unser Verständnis des Gedächtnisses und jener Vorgänge angeht, die ablaufen, wenn wir lernen und uns erinnern.“
Leider ist das Wissen darum nur wenigen zugänglich, auch daß Ihre Erkenntnisse, die Sie in Ihren Büchern beschreiben, den wissenschaftlichen Erkenntnissen vollauf entsprechen.
Das Wissen ist damit zunächst eine stumpfe Waffe.
Aber ein Kampf mit der Unwissenheit als Waffe kann sehr wirkungsvoll sein. Zum Beispiel: meine Mutter ist nicht in der Lage, mich wahrzunehmen und zu empfinden, was und wie ich bin. Ich frage sie,ob sie mir erklären kann,was Gefühle sind. Sie hat keine Ahnung. Ich frage sie, woher ihre Gedanken kommen, was Gedanken sind. Sie weiß es nicht. Angst, Wut, Liebe, wie der Körper das macht? Keine Antwort.Wie der Körper Erinnerungen erzeugt? Emotionen speichert? Was geschieht,wenn dieses und jenes im Gehirn ausfällt? Was Bestandteile des Bewußtseins sind?
Wie unbewußtes Gedächtnis funktioniert? Nichts.
Je länger der Austausch geht,desto deutlicher wird, daß ihr ganzes Sein und damit ihr Umgang mit mir auf ihrer elenden Kindheit beruht. Ein kindliches Einfordern von Liebe,Mitgefühl oder sonstwas bringt in diesem Fall nichts, diese Frau kann nichts geben, sie braucht.
Mir scheint eine gute Strategie für Mißhandelte zu sein: erschüttert die Sicherheit der Peiniger mit grundlegenden Fragen, (die sie nicht beantworten können). Seht sie als das,was sie sind: auf destruktiven Erinnerungen beruhende Individuen, deren Einfluß negativ ist. Stellt sie als unwissend hin,(egal ob Mutter,Vater,Lehrer,Pfarrer,Psychiater) und erlebt,wie ihre Macht zu bröckeln beginnt,wenn sie unsicher werden.

Liebe Alice,es ist eine grausame Wirklichkeit,in der Sie und Ihre Mitarbeiter auf unzulängliche Weise hier im Internet mehr leisten als tausende von Therapeuten für Millionen von Euro. Daß das möglich ist, finde ich traurig und wunderbar zugleich.
mit liebem Gruß I. K.

AM Vielen Dank für Ihren Brief und Ihren Hinweis. Sie könnten einen solchen Dialog mit Professoren, Therapeuten und Ärzten führen, wie Sie es mit Ihrer Mutter taten. Was würde dabei herauskommen? Vermutlich eine Menge Floskeln, aber kaum etwas Erlebtes. Schon das Wort „Gefühl“ macht offenbar Angst.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet