Soll ich sie mit der Vergangenheit konfrontieren?

Soll ich sie mit der Vergangenheit konfrontieren?
Tuesday 30 October 2007

Hallo, Frau Miller
ich habe Ihr letztes Buch “Dein gerettetes Leben” gelesen und habe eine Frage dazu. Doch zuerst möchte ich Sie mit der Vorgeschichte vertraut machen. Ich habe 5 Jahre bei einer Pflegefamilie verbracht. Meine Pflegemutter hat sich sehr um mich gekümmert, und ich konnte vieles von den Schrecken meiner Kindheit bei ihr loswerden. Dies hat mir auf meinen Weg sehr geholfen, da Sie damit der “wissende Zeuge” wurde, der mich vieles in meiner Kindheit hat erkennen lassen. Doch es gibt einen dunklen Fleck in unserer Beziehung. Dazu muss ich erwähnen, daß ich in meiner Kindheit von meinem Stiefvater sexuell mißbraucht wurde. Als ich mit 13 Jahren in die Plegefamilie aufgenommen wurde, schien zuerst alles bestens zu sein. Doch mit der Zeit (als ich immer reifer wurde) wurde mir mehr und mehr klar, daß mein Pflegevater (mein Stiefvater lebte zu der Zeit schon nicht mehr) mich als “Frau” bzw. als “Lustobjekt” betrachtete. Er hat auch mehrmals versucht, mir die Brust zu tätscheln und seine anzüglichen Blicke sagten auch alles. Ich weiß bis heute nicht, ob meine Pflegemutter etwas von der Lüsternheit Ihres Manner mitbekomen hat (er lebt seit ein paar Jahren nicht mehr), doch sie stand mehrmals im Raum, wenn ich seine Umarmungen (z.B. zum Geburtstag) mit vor der Brust verschränkten Armen entgegennahm.
Jetzt gibt es eine große Krise in meinem Leben und sie hat mir angeboten, bei ihr zu wohnen, doch immer noch ist ganz tief in mir dieser Schmerz, daß sie es vielleicht doch mitbekommen hat und mich nicht beschützt hat (so wie damals meine Mutter, die Alkoholikerin war, mich auch nicht beschützt hat). Sie hat mir neulich noch in einem anderen Zusammenhang gesagt, man soll seinem Herzen Luft machen und die Dinge nicht brodeln lassen, die zwischen einem stehen. Ich trage schon seit über 20 Jahren diese schreckliche Wahrheit mit mir herum. Dieses Geheimnis steht immer zwischen mir und ihr und ich kann sie einfach nicht so lieben, wie ich es gerne möchte. Mir tut das manchmal unsagbar weh, zumal ich ja eh von meinem Kindheitserlebnis schwer traumatisiert wurde.
ich frage mich, ob ich sie damit konfrontieren soll. Doch stehe ich im Zwietracht mit mir, denn einerseits denke ich: ach, der lebt ja eh nicht mehr, ist alles Vergangenheit, man kann es ja eh nicht wiedergutmachen und ich will Ihr nicht die Illusion Ihrer langjährigen Ehe rauben, doch dann braut sich eine unheimliche Wut in mir zusammen, warum ich immer die liebe sein soll, auf deren Rücken alles lastet, warum bin ich viel zu dick, warum habe ich Hautprobleme? warum soll ich immer alles in mich reinfressen. Wie soll ich ihr gegenüber freundlich sein, wenn es doch total geheuchelt ist. Wäre die Wahrheit nicht auch eine Chance, auch für sie? Ich weiß es nicht! können Sie mir einen Rat geben? darf ich ihr überhaupt die Wahrheit sagen? Ich möchte noch erwähnen, daß meine Pflegemutter seit 2 Jahren eine wundervolle Beziehung hat und bei diesem Mann fühl ich mich als Tochter sicher und gut aufgehoben, ich bin an meinem Platz und sie ist die Frau an seiner Seite. Es ist wunderbar für mich, diese Grenze zu sehen und es tut mir unendlich gut zu wissen, daß es Männer gibt, die nicht auf jüngere Frauen und Fleischeslust aus sind, sondern Respekt vor Ihrer Geliebten haben und sie auch so behandeln.
Wenn Sie mir einen Tip geben könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar!.Wenn Sie wenig Zeit haben, könnte Ihre Redaktion mir ja eine Antwort zukommen lassen. Ich wohne 500 km von meiner Pflegemutter entfernt und besuche sie Mitte November. Es wäre schön, wenn ich bis dahin ein wenig mehr wüßte, vielleicht helfen mir ein paar Worte von Ihnen.
Grüße, M.

AM: Ihr Brief enthält eigentlich alle Antworten, die ich Ihnen geben möchte. Ich brauche nur JA zu sagen, wenn Sie fragen: „dann braut sich eine unheimliche Wut in mir zusammen, warum ich immer die liebe sein soll, auf deren Rücken alles lastet, warum bin ich viel zu dick, warum habe ich Hautprobleme? warum soll ich immer alles in mich reinfressen. Wie soll ich ihr gegenüber freundlich sein, wenn es doch total geheuchelt ist. Wäre die Wahrheit nicht auch eine Chance, auch für sie? Ich weiß es nicht! können Sie mir einen Rat geben? darf ich ihr überhaupt die Wahrheit sagen?“ Sie sehen es sehr deutlich, Sie sind sich die Wahrheit schuldig, absolut. Alles spricht auch dafür, dass Sie es wagen können und auch Ihrer Pflegemutter einen großen Dienst damit erweisen. So retten Sie die gute Beziehung, die Sie zu ihr hatten und helfen auch Ihrem Körper, der die Lüge und das Verschweigen nicht aushält. Zum Glück sind alle Voraussetzungen für eine aufrichtige Kommunikation gegeben. Warum meinen wir so oft, dass die Lügen besser sind als die Wahrheit? Weil man uns das in der Kindheit eingebleut hat?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet