Ich habe endlich verstanden!

Ich habe endlich verstanden!
Tuesday 25 September 2007

Liebe Frau Miller,

ich danke Ihnen sehr, dass Sie meine verzweifelten Zeilen unter der Rubrik Leserpost Ihrer Website veröffentlicht haben. Meine Therapeutin hatte sich auch schon des öfteren auf Ihrer Seite umgesehen und vernahm meinen Eintrag und Ihre Antwort. Wir haben in zwei Zusatzterminen genau das thematisiert, die Frage nach dem WARUM?

Ich habe zwar Ihre Bücher gelesen, aber genau das Verzweifelte Bemühen um die Erklärung legt doch recht deutlich Zeugnis von Ihren Gedanken und Erfahrungen ab: Sollen meine Eltern wirkich so gewesen sein? Kann ja sein, dass es solche grausamen Menschen gibt, aber ich kann das nicht glauben. Was habe ich da bloß überlebt?

Nach den beiden Zusatzterminen und Ihrer Antwort auf meine Zeilen ist die Botschaft bei mir endlich angekommen: Ja, ich habe eine Mutter gehabt, die mich gefügig und verfügbar gemacht hat. Körpersprachen auf Bildern, Beurteilungen aus früheren Arbeitsrechtsverhältnissen legen ihre gestörte Persönlichkeit frei. Und doch ist sie für das, was sie tat, in meinen Augen voll verantwortlich. Vergeben kann ich derzeit (noch) nicht.

Diese Tage aktuell haben sehr viel Schmerzhaftes aber auch etwas Wundervolles: Ich bin eine Überlebende, die dabei ist, ihr wahres und echtes Selbst zu formen, die eine 16 Jahre andauernde Alkoholabhängigkeit mit dem Ausstieg aus dem Alkohl und kompromißloser Trockenheit (schon seit 6 Jahren) hinter sich gelassen hat, ich bin stolz darauf, meinen jetzt 17jährigen Sohn nicht geformt zu haben, ich habe ihn mit Liebe und Verständnis zu einem liebenswerten und selbstbewußten jungen Mann heranwachsen lassen. Ich brauchte ihn nicht schlagen oder quälen, ich habe ihm gegenüber Unsicherheiten zugegeben, mich für eigene Schwächen entschuldigt. All das Aufgezählte geben mir einen Hauch von Stolz und Würde, das fühlt sich verdammt gut an. Meine Mutter hat sich an mir fast die Zähne ausgebissen. 1999 hatte ich ihr gesagt, daß ich sie eine zeitlang nicht mehr besuchen werde, weil ich diesem Druck nicht mehr gewachsen bin, da habe ich der Mutter-Kind-Beziehung, ohne es zu wollen, dien Todesstoß verpaßt. Von da ab hatte ich Hausverbot und sie hat mich unter Androhung von Polizeigewalt, falls ich ihr Haus doch betrete, auch noch das “Sie” und “Frau R.” angetragen. Ich war erschöpft und ausgelaugt, aber immer noch sehr mutig.

All das ist mir gestern in der Therapie klar geworden. Ich habe, wie Sie es in den Büchern beschreiben, verdrängt und bagatellisiert. Nun fühle ich mich so, als würde nach langer langer Nacht der Tag dämmern. Bin mal gespannt, wie hell und klar der neue Tag einmal aussehen wird.

Zu dieser Morgendämmerung werde ich mich in eine Rehaklinik begeben, das war schon längere Zeit geplant, in zwei Wochen geht es los. Ich brauche Ruhe, möchte aus dem Hamsterrad heraus und vor allem aber möchte ich trauern, ich habe sehr viel verloren!!!

Danke nochmal für Ihre Offenheit, die Wahrheit tat weh, deshalb habe ich wohl nicht ganz genau hinsehen wollen. Die letzten Tage waren dramatisch, aber ich bin sehr sehr dankbar.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diesn zweiten Teil meines Leserbriefes an den ersten teil anfügen würden, denn Sie hatten Recht, mehr als sie in den Büchern schrieben, konnten Sie auf der Website auch nicht mehr tun.
Herzlichst
S. R.

AM: Sie schreiben: „Von da ab hatte ich Hausverbot und sie hat mich unter Androhung von Polizeigewalt, falls ich ihr Haus doch betrete, auch noch das “Sie” und “Frau R.” angetragen. Ich war erschöpft und ausgelaugt, aber immer noch sehr mutig.“ Wenn ich das lese, denke ich, dass Sie nicht nur trauern müssen, sondern auch eine unbändige, lange zurückgehaltene Wut mehrmals werden erleben müssen, um endlich die Wahrheit über Ihre Mutter und über Ihre Illusionen zuzulassen und von diesem Terror freizuwerden. Ich hoffe, dass Sie in der Klinik die Möglichkeit dazu bekommen und wünsche Ihnen Vertrauen in den Weg, den Sie eingeschlagen haben. Sie sind wirklich sehr mutig. Es ist schwer zu glauben, dass man von der eigenen Mutter so behandelt wird, aber es bleibt uns nichts als die Wahrheit, wenn wir gesund werden wollen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet