Das verlassene Kind

Das verlassene Kind
Tuesday 03 April 2007

Liebe Frau Miller,
ich würde Ihnen gerne noch einmal meine frage stellen, da es eine frage ist die mich sehr beschäftigt.

es würde mich sehr interessieren, ob Sie denken, daß Liebe ohne leiden möglich ist?

ich z.b. bin aufgrund meiner kindheit ein extrem unsicherer mensch. ich kann mich in gedanken verhängen, verhedern, denke immer wieder im kreis anstatt in der gegenwart zu leben. ich versinke in meine depressionen und auslöser sind oft dinge, die jemand anderen nicht einmal auffallen würden.

ich habe ein derartiges defezit in dem gefühl „ich bin auf dieser welt erwünscht und willkommen“, daß ich sehr schnell etwas als gegen mich interpretiere.

ich erkenne mich wieder in dem was Sie geschrieben haben „ich warte auf die erfüllung meiner bedürfnisse und unterdrücke meine enttäuschung“ aber welche enttäuschung ist es? ist es die enttäuschung des erwachsenen kindes, daß sich jetzt vom partner etwas erwartet, daß die eltern nicht gegeben haben oder ist es eine enttäuschung die tatsächlich vom partner ausgeht?

die differenzierung quält mich sehr.

ich weiß,wenn ich jemanden sehr gerne habe, ist es mir fast unerträglich, wenn er übers wochenende wegfährt. egal ob wir 5x am tag telefonieren oder nicht. oder ob er ohne mich forgeht am abend z.b. mich quälen gedanken und gefühle was alles passieren könnte ohne mich bzw. das gefühl „ich bin ihm sicher nicht wichtig, weil mich kann eh keiner gern haben“

ist liebe ohne leiden möglich? wird der schmerz über geschehene dinge je ganz weg sein bzw. andere menschen sind auf andere art mißbraucht worden. man trifft sich doch immer wieder in seinen alten wunden?

mit lieben grüßen, V.

Sie fragen: „wird der Schmerz über geschehene dinge je ganz weg sein?“ Das weiß ich nicht, sicher kann er immer wieder auftauchen, wenn er nie wirklich im Zusammenhang der Kindheitssituation gelebt und verstanden wurde. Was Sie beschreiben (sich verlassen fühlen nach 5 Telefonen an einem Tag) scheint die Angst des ganz kleinen ungeschützten Wesens zu sein, die brennende Sehnsucht nach der Anwesenheit der Mutter, nach ihrem Schutz und Liebe. Da Ihre Mutter sich Ihnen so oft entzogen hat, Sie weggab oder sich in den Alkohol flüchtete, lebten Sie ja in einer ständigen Unsicherheit, die vielleicht erst jetzt deutlicher in Ihr Bewusstsein dringt. Diese damals unbewussten Emotionen getrauen Sie sich erst jetzt zu fühlen, das kleine Mädchen möchte vielleicht rufen: Mama, bleib doch bei mir, lauf mir nicht davon. Es wäre gut, wenn Sie jetzt dieses kleine nie angehörte Mädchen anhören würden und es in sich leben ließen, denn nur Sie können das heute tun, nur Sie können ihm die ständige Präsenz geben, die es als kleines Kind so dringend brauchte. Eines Tages werden Sie ihm die Geborgenheit und Sicherheit geben, die es nie bei Ihrer Mutter hatte. Auch der beste Partner kann Sie bei dieser Aufgabe nicht ersetzen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet