Nicht jedes Kind liebt seine Eltern

Nicht jedes Kind liebt seine Eltern
Thursday 19 October 2006

Sehr geehrte Frau Miller,

ich habe einige Ihrer Bücher mit Interesse gelesen und kann vieles von dem, was Sie schreiben, nur unterstützen und auch aus eigenem Denken und Empfinden als für mich wahr und wertvoll erachten.

Mit einem Punkt Ihrer Ausführungen stimme ich jedoch absolut nicht überein. Namentlich ist das die ständig wiederkehrende Behauptung, jedes Kind würde seine Eltern (bzw. die jeweiligen Bezugspersonen, aber der Einfachhiet halber bleibe ich hier bei Eltern) lieben. Ich stoße mich wieder und wieder an der Aussage, sie taucht so oft auf, als sollte sie durch Wiederholung wahr gemacht werden.

Ich glaube nicht, dass ich meine Familie je geliebt habe. Ich sollte sie lieben, soviel war immer klar, sie selbst erwarteten es, jeder (!) Außenstehende ging davon aus, alle mir bekannten Menschen erwarteten von mir, dass ich meine Eltern liebte. Natürlich ist es wahr, dass jedes Kind auf seine Eltern angewiesen ist, sie sind überlebensnotwendig und haben die Macht, uns zu töten. Das ist völlig klar. Von dieser Lebensabhängigkeit jedoch mit dem Begriff „Liebe“ zu sprechen, fühlt sich für mich nicht richtig an. Jetzt könnten Sie sagen, dass ich dieses damalige bedingungslose Liebes-Gefühl bisher verdränge und nicht wahrnehme, weil es so schmerzhaft wäre. Vielleicht stimmt das sogar, aber auch diese Behauptung fühlt sich für mich nicht stimmig an.

Es ist ein seltsames Paradoxon, das Ihre sonst so einleuchtenden Bücher durchzieht: Als Kind liebt man seine Eltern und dann, als Erwachsener (oder wann auch immer), hört man auf damit, sobald man erkannt hat, dass die Eltern einen misshandelt haben und einem nie Liebe entgegengebracht haben? Das passt zumindest nicht in meine Geschichte, mag sein, dass ich hier eine absolute Ausnahme darstelle, das kann ich nicht wissen und für den Moment ist das auch nicht wichtig. Ich habe schon als Kind gespürt, dass meine Eltern mich nicht liebten, sondern stattdessen benutzten und dass meine gesamte Familie nach dem Prinzip Das-Kind-ist-der-Sündenbock funktionierte. Das war mir bewusst. Gleichzeitig habe ich immer gewusst, dass niemand mir Bekanntes mir geglaubt oder mich wichtig genommen hätte, hätte ich von den Misshandlungen (Schläge, sexueller Missbrauch, zum Teil rituell, u. v. a. m.) irgendetwas erzählt. Demzufolge war ich gezwungen, all das auszuhalten, es gab keinen Weg hinaus. Man hätte mir nicht nur nicht geglaubt, man hätte mich auch beschuldigt, meine Eltern zu verraten und alles wäre noch viel schlimmer geworden, zu den ohnehin stattfindenden Misshandlungen wären auch noch welche für den Verrat an der Familie hinzugekommen.

Das was ich als Kind fühlte, war eine grenzenlose Einsamkeit, eine grenzenlose Verlorenheit und vor allem auch ein grenzenloser Gedankenkreis aus einem alles überdeckenden „Das ist gemein. Das ist unfair. Diese Welt will mich nicht haben, diese Welt quält mich und wäre es für den heilen Schein nicht wichtig, wäre es ihr sogar verdammt egal, ob ich dabei draufginge oder nicht.“ Schon im Mutterbauch war mir klar, dass diese Welt da draußen (=Familie) mich hasst, meine Mutter brachte im Mutterleib meine Zwillingsschwester um.

Durch diese ständigen Allgemeingutsätze „Jedes Kind liebt seine Eltern.“ wird mein Wissen und mein Fühlen und Denken verschleiert. Ich habe meine Eltern gefürchtet, auf den Tod gefürchtet, und bin ihren Befehlen deshalb gefolgt. Nicht weil ich sie liebte, sondern weil ich Angst, Todesangst, vor ihnen hatte. Das hat sich natürlich in den Jahren automatisiert (ist ja auch nützlich, wenn man befürchtet, für ein Wort gegen die Familie umgebracht zu werden), aber diese Plakativsätze haben mich noch mehr von mir entfernt, weil sie nicht meine Wahrheit sind.
Als ich diesen Gedanken, dass ich meine Familie eben nicht geliebt habe, zum ersten Mal dachte, fielen mir schlagartig Situationen aus meiner Kindheit ein, die deutlich zeigen, dass in mir kein Liebensgefühl, sondern vielmehr der Anspruch, wenigstens zu tun zu müssen als liebe ich sie und wenigstens gehorchen zu müssen um nicht draufzugehen, vorhanden war.

Als ich später immer wieder solche Behauptungen der frühen Liebe las, versuchte ich, sie zu fühlen und alles was dabei rumkam, war das Gefühl, dass ich sie hätte lieben sollen, was einer sehr frühen, gesamtgesellschaftlichen und anhaltenden Indoktrinierung entspricht.Im aufgesetzten Glauben, meine Familie ganz natürlich als Ursprungsgefühl geliebt zu haben, geriet ich immer wieder in Beziehungen, die dieser angeblichen Liebe (also realerweise Furcht, Unterordnung, Selbstaufgabe, Selbstopferung usw.) glichen, die ich aufgrund der Liebesbehauptung aber erst spät als solche erkannt habe, eben weil sie so genau das spiegelten, was mir als meine Liebe verkauft wurde.

Ich möchte niemandem absprechen, seine Eltern bedingungslos geliebt zu haben, auch wenn diese misshandelten, quälten und töteten. Ich möchte hiermit aber sagen, dass diese eingangs genannte Behauptung keinesfalls immer zutrifft und in manchen Fällen zur Verschleierung beitragen kann. Mir scheint sogar, dass es oft so geht, dass Menschen diesen Satz „Du hast geliebt“ aufsaugen, als Wahrheit anerkennen und dann in vermeintlicher Liebe zu/mit jemandem leben, weil sie nicht begriffen haben, dass das damals keineswegs Liebe gewesen sein muss – nicht nur nicht von Seiten der Eltern, sondern auch als eigenes Gefühl.

Im Grunde ist dieser Generalsatz doch nichts weiter als eine Auferlegung, eine von außen kommende Hineinlegung ohne im konkreten Einzelfall nachzufragen. Und ich denke, dass ich die Möglichkeit, dass ich meine angeblich dagewesen eigene anfängliche bedingungslose Liebe möglicherweise bisher nur aus Schmervermeidungsgründen verdränge, entkräften kann. Für mich (und das ist nur auf mich bezogen und kein Generalsatz) tut diese Wahrheit noch mehr weh, weil ich nämlich nicht nur daran gehindert wurde, zu sehen was andere mir antun, sondern auch noch gehindert werde, zu erleben, wann und wen ich liebe und wann und wen ich fürchte.

Ich zweifle im Übrigen nicht daran, dass ich meine Eltern hätte lieben können (wenn sie mich nicht misshandelt hätten und nicht uralte Vergehen an mir abgeladen und mir aufgetragen hätten und mich jemals wirklich gesehen hätten und ich auch sie jemals als eigenständige, begreifbare, klare Personen hätte erleben können), ich zweifle auch nicht daran, dass ich lieben kann. Ich weiß aber, dass ich damals nicht geliebt habe, sondern gefürchtet, und dass für mich Liebe und Existenzfurcht nicht zusammenbestehen können, in keinem Fall.

Mit freundlichen Grüßen und wohlwollenden Wünschen,
S. S. W.

AM: Ich danke Ihnen für Ihren wichtigen Beitrag und Ihre Kritik. Sie beweist, dass man sich leicht ins Unrecht setzt, wenn man das Wort “jeder” benutzt, weil es ja immer Ausnahmen gibt, zu denen Sie zweifellos gehören. Auch riskiert man, ungenau zu werden, wenn man das Wort “Liebe” verwendet. Auch wenn ich dieses Wort immer in einem Zusammenhang gebraucht habe, aus dem Sie den Satz herausnahmen, muss ich mir den Vorwurf der Ungenauigkeit gefallen lassen. Denn mit dem Wort meinte ich sehr VIELES, manchmal die “erste Bindung”, wie Konrad Lorenz sie bei einer Gans beschreibt, die bei ihrer Geburt als erstes seinen Stiefel sah und diesem später ständig nachlief, oder die “Idealisierung” (meine Eltern haben immer recht) oder die “Erwartung” (eines Tages werden sie wissen, was sie an mir haben”) und vieles mehr. Es kann sich auch um den WUNSCH handeln, lieben zu können und Eltern zu haben, die dies verdienen.
Doch Sie haben Recht, sehr häufig ist es die Angst, umgebracht zu werden, wenn man nicht gehorcht, und die Anstrengung, den Erwartungen der Familie und der Gesellschaft zu entsprechen. Das alles nennen viele Menschen “Liebe”, und es war zweifellos irreführend, wenn ich das Wort unreflektiert übernommen habe. Ich bin einfach seit Jahren täglich davon beeindruckt, wie einst misshandelte Menschen von ihrer “Liebe” zu den Eltern berichten, ohne diese jemals in Frage zu stellen. Es schien mir wichtig zu sagen, dass man auch diese scheinbar unzerstörbare und so zerstörerische Liebe aufgeben kann, wenn man bewusster lebt. Offenbar hatten Sie das Glück, trotz aller Qualen bewusster aufzuwachsen als die meisten Menschen. War jemand da, der manchmal als helfender Zeuge auftrat? Vielleicht war es nur ein anderes Kind?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet