Die Suche nach den eigenen Gefühlen

Die Suche nach den eigenen Gefühlen
Tuesday 17 June 2008

Sehr geehrte Frau Miller,
gerade habe ich wieder etwas auf Ihrer Web-Site gestöbert.
Seit ich 1995 das “Drama des begabten Kindes” und danach Ihre anderen Bücher gelesen habe, ist es mir in einem schier unendlichen, mühevollen und oft extrem schmerzhaften Prozess gelungen, mich von den ärgsten Depressionen und den damit verbundenen Symptomen zu befreien. Hilfe fand ich 2002 auch bei einem Heilpraktiker, der mir ermöglichte, einige härtest zementierte Gefühlsblockaden aufzulösen. Ich erlebte bei Ihm zum ersten Mal(!) im Leben das Gefühl von Vertrauen, eine umwälzende Erfahrung! Im Verlauf der letzten Jahre (ich bin jetzt 48) lernte ich endlich wesentliche meiner eigenen Gefühle kennen, spürte die Wut und den Hass auf meine Eltern und konnte mich endlich von diesen üblen Personen innerlich und äußerlich befreien.
Den Schaden in meiner Gefühlswelt, den meine gesamte Herkunftsfamilie (Großeltern, Eltern und sonstige Verwandte) angerichtet haben, werde ich nur schwer ganz beheben können.
Ich wurde mit Gewalt und endloser Demütigung zum Musterknaben dressiert, meinen kindlichen, emotionalen Bedürfnissen standen nur Gefühlskälte und Feindseligkeit gegenüber, speziell wenn meine Bedürfnisse irgend jemanden “nervös” machten (oder beängstigten).
Inzwischen habe ich diese ganze Bande zum Teufel gejagt, die haben allesamt nichts dazugelernt.
Trotzdem empfinde ich es heute als Glück, das ich in der Lage war, auch dank des Heilpraktikers und Ihrer, liebe Frau Miller, mich zumeist begleitenden Bücher, den Weg zu mir selbst immer wieder zu finden. Ich denke, es ist nicht unbescheiden zu sagen, dass ich bezogen auf mich die Hauptarbeit geleistet habe, anders geht es gar nicht. Spät, sehr spät ist es mir nun möglich, mein Leben hauptsächlich an meinen ureigensten Gefühlen auszurichten. Mein geschundener Körper hat sich weitgehend entspannt, mein Verstand arbeitet endlich intelligent zu meinen Gunsten.
So vieles habe ich im Leben verpasst, z.B. zu lieben – dieses großartige Gefühl habe ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal gespürt (!!). Freude an Tätigkeiten zu empfinden, die ich früher nur unter Leistungszwang betrieben habe, Nähe lieber Menschen zu genießen ………
Ich glaube, liebe Frau Miller, das Sie mich gut verstehen können.
Die Widerstände meiner Umwelt werden nicht geringer, wohin ich schaue – jetzt mit offener Seele – emotionale Verkümmerung in breiter Front als Folge des krankhaften Leistungszwangs in dieser Gesellschaft, massenhafte Kompensation von Gefühlsarmut durch Besitz, Macht und Imponiergehabe.
Aber ich bin nicht mehr mutlos und ängstlich in mich zurückgezogen wie in meiner Kindheit, ich fühle mich sehr lebendig, auch wenn mein Weg oft einsam ist.
Mein neugewonnenes Selbstvertrauen gibt mir die Kraft, Wege zu suchen, auf denen ich weiterhin mir selbst, aber auch Menschen helfen kann, die den Ausweg aus dem emotionalen Gefängnis Ihrer Kindheit ernsthaft suchen. Ich möchte in den nächsten Jahren meine Erfahrungen in öffentliche Räume tragen und werde ganz bestimmt auch ein Buch schreiben.
Wichtig ist für mich, das es sich gelohnt hat, den schwierigen Weg der letzten Jahre zu gehen.
Ich bin im Großen und Ganzen gesund – auch zum ersten Mal im Leben – fühlt sich toll an, ich mag mich gut leiden und lebe kreativ und genussreich.
Vor der Zukunft ist mir nicht bange, sicher werden noch einige früh verdrängte Emotionen auftauchen und mir die eine odere andere negative oder positive Überraschung bescheren, aber das ist mein Leben.
Ich möchte als Letztes, falls Sie mein Schreiben veröffentlichen möchten, anderen Lesern oder Schreibern den Rat geben, niemals, niemals den Weg der Suche nach der eigenen Gefühlswelt aufzugeben, es lohnt sich bis zum letzten Tag unseres Lebens, ein Leben ohne authentische Gefühle und deren Verständnis gerade im Erwachsenenalter ist für die Katz, hirnlos, sinnlos, es manifestiert nur die frühe Ablehnung durch Eltern u.ä. Verachter und Geblendete bis in alle Ewigkeit.
Das aber wünsche ich niemandem.
Herzlichste Grüße, I. P.

AM: Aus allem, was Sie schreiben, spricht schmerzhaft Erlebtes und die Kraft, die Sie dadurch erreicht haben. Dazu gratuliere ich Ihnen herzlich. Es ist gut, dass Sie Ihren Weg in einem Buch beschreiben und andere damit ermutigen wollen, ihren Gefühlen treu zu bleiben. Vielleicht lassen sich die schreckliche Ignoranz der Medien und deren Tabus allmählich abbauen, wenn Menschen, die sie überwunden haben, darüber berichten.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet