Zerrissen: mein Leben oder das meiner Eltern
Sunday 17 December 2006
Liebe Alice Miller,
herzlichen Dank für Ihre letzte Antwort erstmal auf meinen letzten Leserbrief mit der von Ihnen versehenen Überschrift “Liebevolle Tochter”. Ich merke, daß ich würge und das “mit dem süßen Kakao geschluckte Gift” nicht länger behalten kann, wenn ich nicht sterben will.
Ich hatte mir gewünscht, wenn ich Kontakt zur Familie wieder aufnehme, diesmal einen echten, authentischen, liebesfähigen entstehen zu lassen, eben in ehrlicher Liebe. Leider ist das nicht möglich, wie ich spüren muß. Mein Körper rebelliert so heftig, daß ich denke, sterben zu müssen. Ich kann nicht mehr und fühle mich zerrissen zwischen dem Wunsch, zu leben und der Angst, meine Eltern, besonders meinen Vater ins Grab zu bringen durch Verlassen und/oder Konfrontieren dieser.
Hier würde ich Ihnen nun gerne einen Brief abtippen, bei welchem ich unsicher bin, ob ich ihn meiner Familie zukommen lassen sollte, das vernünftig wäre. Auslöser waren vermehrte körperliche Zusammenbrüche aus Angst bei nun erneutem Kontakt zu ihnen. Wie gesagt, andererseits hatten die letzten Kontaktabbrüche wiederum starkes Mitleid mit ihnen in mir ausgelöst und Sorge.
Falls es Ihnen nicht zu viel zu lesen ist, würde mich Ihre Meinung dazu sehr interessieren:
Liebe Familie,
dies wird jetzt ein sehr, sehr schwerer Brief für mich werden. Aber ich muß das tun, weil ich nicht weiß, wielange ich noch die Möglichkeit habe, klar zu denken. Ich hatte mir gewünscht, einen ehrlichen, authentischen, offenen Kontakt zu Euch zu haben. Seit ich wieder Kontakt zu Euch habe, geht es mir sehr schlecht, insbesondere körperlich, ich habe das Gefühl, sterben zu müssen, kann kaum schlafen, essen(mein Untergewicht wird stärker), habe Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Tinitus, diverse Schmerzen, extreme Schlappheit, Panik und Entfremdungsgefühle, Selbstmordgedanken. Wenn ich den Kontakt zu Euch abbreche, dann deshalb, weil ich Angst vor Euch habe, weil ich mich von Euch manipuliert und kontrolliert, kleingemacht und als Sündenbock abgestempelt fühle. Ihr versteht anscheinend überhaupt nicht, worum es eigentlich geht, oder aber Ihr tut so, als versteht Ihr es nicht. Ich habe die Symptome von chronischer Traumatisierung, sexuellem Kindesmißbrauch (Inzeßt) seit früher Kindheit bereits, es scheint mich als Jüngste am härtesten getroffen zu haben. Ich kenne das Leben nur quasi als “Krieg”, wo von überall her Fallen gestellt sind, Gefahren lauern, getötet und gefoltert, Grenzen überschritten werden, fühle mich umgeben von “Feinden” und hilflos ausgeliefert. Ich sehe und spüre überall sexuell unheimlich übergriffiges und kann deshalb mitunter nicht leben, sondern nur überleben bzw. vegetieren. Tut Ihr nur so, um mich zu manipulieren zum Schweigen, oder seid Ihr selber wirklich so gut im Verdrängen? Ihr müßtet doch wissen, was der Grund ist, wie krank unsere Familie war/ist, wieviel psychisch völlig überlastende Tyranneien, wieviel perverse, grenzüberschreitende Dinge abgelaufen sind bzw. noch ablaufen. Warum könnt Ihr jeweils nicht einfach zugeben und offen und ehrlich sein, drüber sprechen? Es will ja keiner Rache oder sowas, sondern Ziel sollte doch die Gesundheit sein, oder? Echte Liebe zwischen Menschen kann nur unter der Bedingung von Offenheit stattfinden und sicher nicht unter So-Tun-Als-Ob und Wegdrängen, Verschleiern, schon gar nicht unter Grenzüberschreitungen oder Bagatellisierung des Leids desjenigen, den man mißbraucht/mißhandelt, krankgemacht hat, oder womöglich Verdrehungen wie das Opfer auch noch zum Sündenbock machen. Meine Kindheit in unserer Familie war also nicht so rosig, wie Ihr unsere Familie gerne aussehen lassen wollt. Ich habe das meiste sogar amnesieren müssen, es kommt erst in den letzten Jahren nach und nach hoch. Und dennoch bin ich mit 29 Jahren noch so stark belastet, bzw. konnte meine Persönlichkeit nicht so entwickeln, daß ich ein menschenwürdiges Leben leben kann. Ich werde demnächst eine Traumatherapie machen müssen deshalb. Tut Euch alle selber einen Gefallen und versucht mal, über die Wahrheit nachzuspüren, zB warum es so kommen mußte, was in Euch los ist. Und bitte seht ein, daß ein Kontakt so wie bisher für mich unmöglich ist, es bringt mich wahrhaftig um. Würde ich also sterben, wäre ich ja genauso wenig da, da entscheide ich mich lieber für das Leben, ohne Euch, wenn Ihr nur etwas echte Liebe fühlen könntet, müßtet Ihr das mindestens respektieren – und bitte auch keinerlei Post, Anrufe ect. mehr – gar nicht ist in meinem schlimmen Fall doch wohl nötig, da es um Leben und Tod geht. Ich glaube nicht, daß Ihr mich ins Grab bringen wollt.
Dennoch wünsche ich Euch allen alles Gute fürs weitere Leben, auch ohne mich.
P.S.: Wenn Ihr zu dem Brief noch was antworten wollt, ist das natürlich noch erwünscht.
AM: Woher kommt Ihre Idee, dass das Leben und das Wohlergehen Ihrer Eltern nur dann gesichert sind, wenn Sie sich UNGLÜCKLICH UND KRANK machen und auf IHR LEBEN VERZICHTEN? Wo steht dies geschrieben? Wurde Ihnen diese absurde und empörende Verantwortung so früh andressiert, dass Sie sie so lange nicht loszuwerden wagten? Nun scheinen Sie genug davon zu haben, zum Glück. Ihr Brief ist noch meines Erachtens voll Erwartungen (u.a. der letzte Satz zeigt es deutlich), die nicht erfüllt werden können; daher tun Sie sich weh, wenn Sie ihn abschicken. Wie sollen Menschen, die Sie 29 Jahre nie verstanden haben, jetzt plötzlich dazu in der Lage sein? Ich vermute, dass Sie besser schlafen werden und Freude am Essen bekommen, wenn Sie beschließen, den Brief (VORLÄUFIG?) nicht abzuschicken und zu schauen, wie der Körper reagiert. Sie sind viel zu klug, um sich jetzt noch so viel Heuchelei gefallen zu lassen und nicht daran krank zu bleiben. Im Grunde zeigt Ihr Körper eine enorme Vitalität und Kraft, wenn er Sie so stark für Ihre Anpassungsversuche an die “Schleimigkeit” leiden lässt. Hören Sie ihm zu, es ist das kleine, einst von den Eltern und jetzt von Ihnen gequälte Mädchen, die aus ihm spricht. Warum sollten auch Sie sein Leiden bagatellisieren? Weil Ihnen die Religion das vorschreibt? Ich kann mir kaum einen Gott vorstellen, der das von Ihnen verlangen sollte und sich barmherzig nennen dürfte.