Ganz aufgewacht

Ganz aufgewacht
Tuesday 28 November 2006

Liebe Alice Miller

Sie sind ein wahrer Engel, der die Wahrheit vertritt, egal, was andere denken und das ist schlussendlich immer das was wirklich zählt. Die Wahrheit.

Es wäre schön, wenn Sie sich die Zeit nehmen können, meine Zeilen zu lesen. Ich versuche mich kurz zu fassen. Bitte entschuldigen Sie allfällige Fehler.

Es geht mir vor allem darum, wie und dass man Ihre Pionierarbeit für das Wohl unserer Menschheit weiterführt. Dass wir das müssen ist gar keine Frage. Zu viel steht für die ganze Menschheit auf dem Spiel. Wir alle wissen, dass es nicht einfach sein wird, das sehen zu lernen, was man nicht sehen darf.

Ich habe selbst in 15 Jahren intensivster Arbeit, meine emotionale Blindheit überwinden können. Schritt für Schritt habe ich den Horror meiner Kindheit wiederentdeckt. Dabei stand mir jemand bei, der meinen Entdeckungen glaubte, was so wichtig ist. Da ich immerfort bei meinen Eltern auf diese kalte emotionslose und verletzende Abwehr stiess, wenn ich sie mit Erinnerungen meiner Kindheit konfrontierte, beschloss ich mich für immer von ihnen zu trennen. Sie waren zu verloren, als das sie gemeinsam mit mir aufwachen konnten. Die Misshandlungen auf seelischer Ebene wurden nur noch schlimmer, je mehr ich ihnen kritische Fragen stellte. Es war einfach unmöglich diese Elterliche Ignoranz zu durchbrechen. Die Verdrängung ist zu gross. Das ist das was mir heute noch weh tut. Diese Blindheit und Unfähigkeit der einstigen Eltern einsichtig zu werden.

Die Angst vor einer solchen Trennung zeigt die Konditionierung, der unsere Gesellschaft unterliegt. Ehre und Liebe Deine Eltern und stelle sie ja nie in Frage. Lieber leidest Du ein Leben lang und rächst dich im Zwang der Wiederholung an Unschuldigen oder an den eigenen Kindern, als das du aufwachen darfst und das Unrecht anklagen sollst, das dir über Jahre angetan wurde. Ich dachte wirklich, ich würde sterben oder vom Blitze erschlagen, nachdem ich meinen Eltern einen letzen Brief gesendet habe. Die ersten zwei Wochen nach der Trennung, waren die schönsten Tage in meinem Leben. Der Sprung über diesen Graben hatte sich gelohnt. Heute weiss ich, dass dies der wichtigste Schritt war, um aus einem Kreislauf der Misshandlung und Emotionalen Blindheit auszubrechen. Ein Kreislauf, dessen Ursprung vermutlich bis ins tiefste Mittelalter und weiter zurückreicht.

Genau in diesem schwierigen Moment meines Lebens, als ich mit niemandem über diese Trennung sprechen konnte, weil es einfach niemanden gab, der dies verstanden hätte, fiel mir Ihr Buch in die Hand. Im Bücherladen verschlang ich Ihre Worte und bekam damit die Bestätigung, das ich auf dem richtigen Weg war. Der Weg der eigenen Wahrheit. Dafür bin ich Ihnen wirklich sehr dankbar 🙂

Die physische Trennung von misshandelnden und emotional völlig blinden Eltern ist für einen Erwachsenen machbar. Die psychische Trennung des dahinterliegenden misshandelten Kindes eine jahrelange Aufgabe. Und die kann sehr aufwendig sein. Doch die Arbeit dafür lohnt sich immer. Es scheint zu Anfang unmöglich zu sein, doch wer nicht aufgibt, der wird Erfolg haben. Stück für Stück entdecke ich heute mein Kind in seiner damaligen Ohnmacht und Angst gefangen. Ich habe wunderbare Techniken entwickelt, mit deren Hilfe ich dieses Kind wiederfinden kann und zum ersten Mal in seinem Leben steht ihm jetzt jemand bei, der es liebt und gerne hat und für es einsteht. Ich verstehe immer mehr die komplexen Zusammenhänge, wie das damalige Kind agiert und z.T. eben nicht reagiert, wenn man es gerne möchte und wenn man nach ihm sucht. Es bedarf der Geduld und vor allem der unbedingten Liebe, die es nie erhalten hat. Doch langsam beginnt es zu vertrauen und damit kann man es langsam befreien aus seiner schrecklichen Gruft.

Es hat sehr viel mit der Encodierung schrecklicher Kindheitserlebnisse zu tun, zu der wir als Erwachsene den Zugang verloren haben. Doch diese frühen negativen Erlebnisse sind zuständig für all die Symtome und Beschwerden, die uns leiden lassen. Es ist die Stimme des Kindes von damals, das sich über den einzigen Kanal der ihm bleibt nach draussen schreit. Aber das haben sie ja selbst so schön geschrieben.

Sie wissen, dass alle meine psychosomatischen Symptome logischerweise dann verschwunden sind, je mehr ich dieses Kind in mir endlich gefunden habe.
Heute kann ich klar für mich einstehen und weiss, was ich will und was ich nicht will.

Ich habe die Matura nachgeholt und studiere zurzeit Psychologie im 3 Semster. Es ist schockierend, was ich da erlebe und ich werde dieses Studium wohl nie zuende bringen können, solange diese Wahrheit mit aller Macht von der Institution verdrängt wird, von der ich einst annahm, auf lauter Menschen zu stossen, die dieses Wissen längst sehen und vertreten würden. Das Studium ist insofern nützlich, als das ich immer merke, wieviel Falsches vermittelt wird und dies bringt mich wieder zu meinem damaligen Kind, das ich dadurch finden kann.

Ein misshandeltes Kind, welches sehen lernt, was ihm angetan wurde nimmt meist an, alleine ein Opfer gewesen zu sein. Heute weiss ich, dass unsere ganze Gesellschaft Opfer ist. Am schlimmsten sieht es genau bei denen aus, die eigentlich etwas dagegen tun sollten, den Psychologen. In diesem Studium stellt die eigene frühe Wahrheit ein unantastbares absolutes Tabu dar. Ich kann es nicht glauben, dass ausgerechnet die Psychologie sich dermassen an der Menschheit verschuldet, indem sie die so einfache Wahrheit der Misshandlung strikt ausblendet und ignoriert.

Ich ahnte, was der Grund dafür ist. Schockiert habe ich angefangen meine Erkenntnisse zu testen. Die Professoren die ich diesbezüglich konfrontierte, zeigten alle dasselbe Verhalten. Ablehnung, Verwirrung, Verwischung, Flucht und Angst! Hilfe! Ich bin in diesem Studium unter lauter emotional blinden Menschen. Das eigene erlittene Leid wird mit allen Mitteln und Ablenkungstaktiken in der Verdrängung gehalten, indem man sich schwachsinnige Theorien und Konstrukte aneignet, die einem so vereinnahmen, dass man gar keine Zeit mehr hat, auf die Idee zu kommen in einem selbst auf die Suche zu gehen und da würde man finden und sehen lernen.

Wenn man erst mal begriffen hat, was unsere Menschheit steuert, dann sieht man es plötzlich überall. Selbst die Horrorfilme wiederspiegeln immer die Ohnmacht des Kindes, das einer Übermacht hilflos ausgeliefert ist. Die totale Kontrolle über das wehrlose Opfer.

Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich gefühlt haben, als sie “Sehend” wurden. Man ist völlig alleine gelassen in einem Meer der emotionalen Blindheit. Spricht man das Thema an, dann stösst man auf Ablehnung oder übertriebene Abwehr. Eine Übereaktion die in sich bereits die Bestätigung trägt, auf etwas sehr Schlimmes getroffen zu sein. Gute Freunde wenden sich ab, wenn man auf dem Thema stehen bleibt. Man wird gemieden usw.

Ich sende Ihnen jetzt einfach diese Nachricht. Vielleicht lesen Sie sie ja.
Ich kenne bis jetzt bloss zwei Menschen, von denen ich wirklich glaube, dass sie wirklich sehen gelernt haben, was für verheerende Ausmasse die Misshandlungen an uns kleinen Erwachsenen hat.

Das Unheil der Misshandlung ist überall und wird von Generation zu Generation weitervererbt. Die Fachleute drücken sich vor Ihrer Aufgabe der Aufklärung. Sie sind selbst Opfer und blind. Und wenn sie sehen könnten, dann würden Sie sehen, dass sie feige sind, den Horror in Ihnen zu entdecken um die Menschheit davor zu warnen.

Ich habe dem Sekretariat des Neurologieprofessors geschrieben, um mit Ihm über dieses Thema zu sprechen. Seit drei Tagen warte ich auf eine Antwort. Vermutlich wird sich auch meine letzte Hoffnung im Winde zerschlagen unter all den Psychologen wenigstens einen zu finden, der versteht von was ich spreche. Lieber schlucken sie Pillen, verbreiten Lügen und Unwahrheiten und verdrängen ein Leben lang, als zu dem Kontinenten vorzustossen, den es zu entdecken gilt.

Es bleibt somit bei den wenigen Menschen, die sehen gelernt haben, ihr Wissen für die “Menschheit der Zukunft” weiterzugeben. Vermutlich wird es einige hundert Jahre dauern, ehe wir dieses schwarze Kapitel in unserer Geschichte überwunden haben. Doch es werden täglich mehr Menschen sein, die man aufwecken kann und eines Tages ist die kritische Grenze erreicht und das Wissen setzt sich durch.

Ich lebe seit dem Auffinden meines Kindes in grosser Freude, denn ich habe einen Ort gefunden, an dem ich soviel entdecken kann und immer wieder bekomme ich eine freudige Überraschung meines damaligen Kindes zu spüren und dies ist all die Mühe wert. Das Kind lernt wieder zu sprechen, zu fühlen, zu vertrauen und zu lieben.

Natürlich könnte man Stunden über all die Entdeckungen und Techniken sprechen. Wichtig für mich scheint, dass Sie wissen, dass es andere Menschen gibt, die sich einsetzen werden, damit wir diese Hürde in der Geschichte der Menschheit überwinden können. Dies ist nötig und dahinter, in ferner Zukunft wartet eine ganz andere Menschheit. Eine Menschheit die neue Werte besitzt und neue Aufgaben anpacken wird. Eines Tages schauen sie zurück und unsere Zeit wird ihnen völlig fremd und unverständlich vorkommen, so wie uns die Zeit komisch vorkommt, als unsere Vorfahren glaubten, dass die Erde flach sei oder dass die Erde im Mittelpunkt stehe oder die Zeit der Präformationslehre.

Diese neuen Generationen der Zukunft werden es nicht glauben können, was wir uns gegenseitig angetan haben. Es werden Kinder sein, die frei aufwachsen, von Eltern begleitet, die ein Seelenhaus mit offenen Türen und wertvollem Inhalt besitzen.

Ganz lieber Gruss an einen der wichtigsten Menschen unserer Zeit!
C. B.

PS: Aus dem Verständnis meiner eigenen Entdeckungen, kann ich bestätigen, dass jedes Wort das Sie schreiben wahr ist und diese Einsicht war alle Mühe wert, der eigenen Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die Wahrheit ist einfach und einleuchtend und dennoch wollen wir sie nicht wahrhaben, weil wir dermassen konditioniert, ja, als Gesellschaft hypnotisiert sind. Aber es wird sich ändern 🙂
C. B.

AM: Vielen Dank für Ihren Brief, ich habe mich sehr über Ihren Bericht gefreut. Sie schreiben:
„Ich habe wunderbare Techniken entwickelt, mit deren Hilfe ich dieses Kind wiederfinden kann und zum ersten Mal in seinem Leben steht ihm jetzt jemand bei, der es liebt und gerne hat und für es einsteht.“

Das ist genau, was ich als gelungene Therapie bezeichne. Hätten Sie die Möglichkeit, Ihre “Techniken” zu beschreiben? Vielleicht hilft dies hier anderen Menschen, diesen Weg zu gehen. Sie haben meine Bücher “von innen heraus” verstanden, durch Ihre eigenen Erfahrungen. Das merkt man an allem, was Sie schreiben, aber vor allem an dem, wie Sie das Psychologie-Studium beschreiben, ohne sich durch Fassaden einschüchtern zu lassen. Es ist tatsächlich absurd, und dennoch wahr, dass Sie gerade dort am wenigsten die Chance haben, sich verständlich zu machen. Dieses Studium bietet offenbar so vielen Menschen den Zufluchtsort vor sich selber und die Illusion, dass sie hier etwas über das Funktionieren der Seele erfahren. Aber wie soll denn das gehen, wenn der Zugang zu den eigenen Gefühlen und zur eigenen Kindheit blockiert ist? Man könnte fast meinen, dass es “natürlich” ist, sich vor der eigenen Kindheit zu verschließen, weil fast 99% es tun. Aber wenn diese Haltung von der Natur vorgeschrieben wäre, dann gäbe es keine Besserungen in Krankheitsfällen, sobald die Amnesien aufgehoben werden. Und dieses Phänomen lässt sich nicht bestreiten. Also leben wir alle mit der Angst vor unseren Eltern, die uns verbietet, die Wahrheit zu erkennen und bezahlen dafür mit schweren Erkrankungen? Und wie soll sich das ändern, wenn heute noch Millionen von Kindern geschlagen werden und diese Kinder später das gleiche tun werden und so weiter und so fort? Wenn es einmal wirklich einen weisen und gütigen Gott geben sollte, dann müsste er noch seinen Gläubigen zwei zusätzliche Gebote schenken:
1-Schlage nicht deine Kinder, damit sie nicht Gewalt von dir lernen und später ihre Kinder schlagen und
2- Benütze deine Kinder nicht zur Befriedigung deiner Lust, damit sie nicht später in ihrer Blindheit und Verwirrung Verbrechen tolerieren.

Vielleicht könnten wir mit solchen Geboten getrost in die Zukunft blicken. Aber Sie haben Recht, es wird vermutlich Jahrhunderte dauern, bis sich die Menschen getrauen, die an ihnen verübten Verbrechen ihrer Eltern zu durchschauen und die Logik walten zu lassen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet