Nie war es gut genug

Nie war es gut genug
Monday 08 May 2006

Liebe Alice Miller,
Ich verehre Sie und Ihre Arbeit und möchte berichten, wie mich Ihre Bücher schon lange begleitet haben und wie es mir ergangen ist. Die Lektüre von
“Die Revolte des Körpers” und “Evas Erwachen” haben mich sehr beeindruckt und ich kenne mich mit meinen massiven Eßstörungen wieder. Schon in meinen dreißiger Lebensjahren habe ich “Du sollst nicht merken” und das “Drama des begabten Kindes” gelesen, aber so, als habe es nichts mit mir zu tun.
Ich mußte erst Ende 50 werden, um mir endlich einzugestehen, dass nicht ich die Verrückte in meiner Familie bin, die Alles falsch macht und jede Strafe verdient hat, sondern dass ich mich mein Leben lang in ein perfektes Unterdrückungssystem habe einbetten und ersticken lassen. Erst meine jetzige, zweite Analyse und eine annehmende, liebevolle “wissende Zeugin” haben es mir möglich gemacht. Ich bin dafür sehr dankbar. Ich habe seit Monaten keinen Kontakt zu meiner Mutter, deren Schuldvorwurfsgebäude ich mich noch nicht aussetzen kann. Ich spüre doch noch die Angst, sie zu verletzen. Gleichzeitig bin ich wütend wie ein Stier. Auf verschiedenen workshops in den letzten 15 Jahren habe ich immer wieder gewaltige Wutprozesse gehabt, die ich aber nicht einordnen konnte.
Ich war das erste Kind und als kurz darauf gleich meine kranke Schwester zur Welt kam und mein Vater ins Gefängnis mußte, habe ich mich “entschieden”, meiner Mutter “keine Last” zu sein, habe funktioniert, mich “selbst erzogen”, meine Schwester und meine Mutter versorgt und habe dafür Schläg eingesteckt, da ich nie gut genug war. Ich wurde von meinem Vater früh sexuell mißbraucht und meine Mutter begann eifersüchtig zu werden und mich abzuwerten. Ich wurde auf meinem einsamen Schulweg in der ersten Klasse überfallen und niemand tröstete mich. Meiner Mutter war alles immer nur peinlich. So glaubte ich wieder ich sei Schuld. Ich hatte ja auch ein Rotkäppchenkleid an.
Ich wundere mich, warum ich nicht verrückt geworden bin. Aber viel hat ja nicht gefehlt, ich versuchte später als junge Erwachsene mehrfach Gott sei
Dank erfolglos mich umzubringen. Ich war mittlerweile verheiratet und vielfache Mutter. Mein Exmann konnte mich auch für alles was ihm nur einfiel, beschuldigen, es funktionierte. Meine älteste Tochter ist ohne mein Wissen auch von meinem Vater in jungem Alter mißbraucht worden. Als sie Anfang 20 und ich Anfang 40 war, fand ich in Tiefenprozessen etwas über den Mißbrauch meines Vaters an mir als Säugling heraus, zur selben Zeit mit ihr und als sie mir berichtete, weinten wir zusammen. Zehn Jahre später brach sie den Kontakt mit mir ab, ich hätte den Inzest geduldet. Das ist nicht wahr, aber ich hatte wieder die Schuld. Jetzt sind wir drei Generationen Frauen, wo Mutter und Tochter keinen Kontakt mehr haben. Nein, vier, denn ich darf auch meine kleine Enkelin nicht treffen.
DAs ist alles bitter aber ich will lernen mich um mein kleines inneres Kind zu kümmern und es anzunehmen.
Vielen Dank fürs Lesen. Für eine Rückmeldung wäre ich dankbar.
Liebe Grüße
R.S.P.

AM: ich danke Ihnen für Ihren offenen und traurigen Brief. Es war alles nicht gut genug, alle Opfer, alles Leiden, alle Bemühungen, zu vergessen, zu vergeben, aus Mitleid für die Täter zu verdrängen, haben nur neues Leiden hervorgebracht. Und jetzt ist es Zeit, das alles aufzugeben und nur dem kleinen Mädchen zuzuhören, das bisher keine Zuhörer hatte und so lange wartete, bis jemand endlich kommt. Ich habe den Eindruck, dass Sie sich entschlossen haben, ihm zuzuhören und von ihm zu lernen. Es lohnt sich!

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet