Gerettet dank der Wahrheit

Gerettet dank der Wahrheit
Monday 23 November 2009

Liebe Frau Dr. Miller,

Ich (32 J.) bin seit kurzem Mutter (meine Tochter ist 4 Monate) und ich hätte mir nie vorstellen können, wie riesig das Glück und die Freude mit unserem kleinen Mädchen sein könnten. Dass ich dies so schön und intensiv empfinden kann freut mich umso mehr, da ich vor einigen Jahren noch dermaßen gefangen war, dass ich überhaupt keine Kinder wollte. Allein der Gedanke daran versetzte mich in meine eigene schreckliche Kindheit zurück und das war mehr als ich ertragen konnte. Seit meiner jüngsten Kindheit bin ich mit der Gewissheit groß geworden, dass ich von meinen Eltern (psychisch schwer kranke Mutter, die uns terrorisierte und nie behandelt wurde und total passiver, desinteressierter Vater, der nur selbst einen Mutterersatz sucht) nichts erwarten kann, sondern im Gegenteil für sie zur Verfügung zu stehen habe.

Ich habe schon viele Jahre verschiedenster Therapien hinter mir, welche mir auch zum Teil Linderung verschafften. Aber die wichtigste Arbeit, die mich wirklich wieder zu mir selbst finden ließ fand in Begleitung eines wissenden Zeugen statt, der mich während ca. 3,5 Jahren begleitete. Es war ein sehr, sehr schmerzhafter Weg und ich war oft der Verzweifelung nahe. Aber die Mühe hat sich gelohnt, denn z.B. habe ich meine „grundlose“ tiefe Traurigkeit größtenteils überwunden. Andere Aspekte, wie z.B. Existenzängste oder Sinnlosigkeit im Dasein kommen noch manchmal zurück (vor allem die Existenzängste). Ich habe die Analyse vor ca.2 Jahren unterbrochen weil ich an – noch tiefer sitzende – Elemente gestoßen bin, bei denen ich zu dem Zeitpunkt einfach nicht weiterkam und mich auch nicht dazu bereit fühlte. Wir haben vereinbart dass ich die Analyse zu einem späteren Zeitpunkt fortsetze, wenn ich mich dazu bereit fühle (die Schwangerschaft und Erwartung meines eigenen Kindes hat vieles wieder in Bewegung gesetzt, aber noch habe ich diesen Schritt nicht gewagt).

Trotzdem bin ich heute froh zu sehen, dass diese Arbeit bereits Früchte getragen hat. Vor allem (und das ist wirklich mein zentrales Anliegen in meiner “Erziehung”) möchte ich nicht meine unbewussten, weil unerlebten Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse auf meine Tochter projizieren und von ihr etwas verlangen, nur weil ICH das von ihr brauche. Es scheint mir zumindest annähernd zu gelingen, denn sie wirkt sehr ausgeglichen und in Harmonie mit sich selbst.

Genau da liegt aber auch der Punkt der mich manchmal rasend macht: mit dieser Einstellung zum Umgang mit Kindern stehe ich absolut alleine da. In meinem gesamten Umfeld (und da gibt es durchaus differenzierte Menschen die sich auch viele Gedanken machen) gibt es keine einzige Person, der ich erklären kann, dass ich meine Tochter ihrem Wesen entsprechend begleiten möchte, und ihr nicht meinen Willen aufzwingen möchte und dass ein Baby das Recht auf eine Mutter hat, die ohne Kompromisse für es da ist. Da heißt es dann sofort: ein Kind soll lernen dass es nicht alles von seinen Eltern verlangen kann, usw. sonst würde es mir irgendwann auf der Nase rumtanzen. Die ständige Rechtfertigung und Argumentierung mit Personen, die eigentlich nicht hören wollen was ich sagen möchte und diese riesige Mauer, die ich da jedesmal spüre, führen dazu dass ich dieses Thema mit niemandem mehr bespreche. Aber ich finde es sehr traurig, so alleine damit zu sein.

Natürlich muss ein Kind zu gegebenem Zeitpunkt lernen, dass man nicht immer alles sofort bekommt usw. Aber für mich kommen solche “Lernsituationen” erst viel später. Ich kann doch einem 4 Monate alten Baby nicht erklären dass es nun warten muss, weil man im Leben nicht immer alles sofort bekommen kann?!?! Was lernt ein Baby in einer solchen Situation wo seine Schreie nach Nahrung/Aufmerksamkeit usw. nicht beantwortet werden? Dass es keine verlässliche Sicherheit gibt… Andererseits, wenn es schreit und seinem Schreien die passende Antwort entgegengebracht wird, lernt es dass es sich verlassen kann auf die Fürsorge und Liebe seiner Eltern, die es nicht alleine lassen. Ich bin überzeugt, dass es dann später diese elterliche Sicherheit nicht ständig auf die Probe stellen muss, denn sie ist einfach natürlich in ihm vorhanden. Dieses Verhalten kann man als Eltern aber nur haben, wenn man davon ausgeht dass das Kind nicht ohne Grund oder aus “Boshaftigkeit” schreit. Das scheint aber noch sehr selten zu sein… Wieso versteht diese einfache Logik denn niemand?? Und warum gehen alle Personen immer von dem “bösen” Kind aus, welches man von klein auf im Zaun halten muss?!? Ich habe doch gewiss nicht die optimalen Voraussetzungen um so was zu verstehen? Leute, die in harmonischern und liebevolleren Familien groß geworden sind müssten dies doch noch viel eher begreifen?!?

In meinem direkten Familienumfeld gibt es eine Situation, welche mich immer mehr belastet: meine Schwägerin hat einen kleinen Sohn von ca. 3 Jahren, und er gilt als “schwieriges Kind”. Er hat sehr viele, außerordentlich heftige Wutanfälle und niemand weiß, wie dem beizukommen ist. Den Rest der Zeit lebt er sehr “abgeschottet” und lässt niemanden an sich ran. Wenn man mit ihm kommunizieren möchte ignoriert er das entweder total oder er bekommt einen Wutanfall. Wenn ich in solchen Situationen anwesend bin (das ist selten der Fall) sehe ich immer das leidende Kind, das sich nicht anders zu helfen weiß und seine Not zu artikulieren vermag als durch einen einzigen, minutenlang anhaltenden schrillen Schrei. Niemand anderes sieht diese Not!! Alle sehen nur das “böse” Kind, welches schon quer schoss bevor es auf die Welt kam da es in Steißlage lag und auch jetzt jedem nur das Leben schwer machen möchte(das sind Zitate). Das Schlimme ist, dass dies eine Familie ist, die durchaus liebevoll und aufmerksam ist, aber diese Überzeugungen stehen felsenfest und unumstößlich im Raum. Meine paar zaghaften Einwände (zu mehr konnte ich mich bislang noch nicht durchringen) werden sofort niedergeschmettert.
Diese ganze Situation wird für mich immer schwieriger zu ertragen. Glücklicherweise leben wir etwas weiter weg. Damit ist diesem Jungen leider nicht geholfen, aber ich bin nicht fähig die große Verfechterin der Rechte für Kinder zu sein (vor allem die Konfrontation mit den Erwachsenen macht mir zuviel Angst). Mein Ziel ist es; meine eigene Tochter gut durchs Leben zu begleiten… Dies ist nicht sehr nobel, aber es ist nun mal so…

Zum Schluss noch etwas: ich bin in einem schrecklichen und asozialen Umfeld groß geworden während meine Schwägerin in einer fürsorglichen und größtenteils liebevollen Atmosphäre aufwuchs. Einen Satz, den ich am Anfang meiner Arbeit im „Drama“ gelesen habe, und überhaupt nicht verstand, hat nun umso mehr Bedeutung für mich: „… ich denke auch nicht an die Kinder die offensichtlich vernachlässigt oder gar verwahrlost aufgewachsen sind und die es schon immer wussten und wenigstens mit dieser Wahrheit groß geworden sind“. Während langer Zeit konnte ich nicht verstehen, was so vorteilhaft daran sein könnte „wenigstens diese Wahrheit zu kennen“ (bei mir war es so). Ich hätte mir so sehr gewünscht (auch noch als Erwachsene) wenigstens eine Illusion einer intakten Familie zu haben. Vielleicht war dies aber genau der Punkt, der mir geholfen hat in den Spiegel zu sehen, während andere mit ihrem felsenfesten Glauben an eine Illusion durchs Leben gehen und sich nie in Frage stellen werden.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Arbeit und Ihre Bücher, die mir so sehr geholfen haben, klarer zu sehen und mich nicht so alleine zu fühlen.

Liebe Grüsse,

SK

AM: Vermutlich hat genau dies das Leben Ihres Kindes gerettet: dass Sie WUSSTEN, wie Sie als Kind gelitten haben, und Ihrem Kind gerade dank dieses Wissens ein solches Schicksal ersparen konnten. Hingegen wächst das Kind Ihrer Schwägerin in einer offenbar lieblosen oder gar grausamen Umgebung, was beweist, dass Ihre Schwägerin eben KEINE Liebe erfahren hat und daher ihr Kind nicht verstehen und ihm nicht helfen kann. Offenbar lebt sie noch in einer Selbstlüge in bezug auf ihre eigene Kindheit.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet