Das Internat
Tuesday 09 June 2009
Liebe Frau Alice Miller,
in den letzten Wochen und Monaten habe ich zwischen Ihren Bildern Platz genommen und mit Zeit und Ruhe das auf mich wirken zu lassen. Zwischen dem Lesen von Artikeln und der Leserpost auf Ihrer Homepage habe ich so etwas wie ein “Nach Hause kommen” gespürt.
Beim Lesen eines Briefes an Sie vom 03.Juni 09 -” Wir fühlen jetzt was damals zu fühlen unmöglich war”, lief in mir ein Film ab, der dem Inhalt dieser Beschreibung und Tatsachen sehr nahekommt.
Abgestellt und weit weggebracht schließen sich die Türen eines Internates hinter mir. Für diese neun Jahre “unsichtbar machen und gemacht werden” stehen viele gemalte Bilder in dieser Zeit, die ich heute so klar und deutlich vor mir sehe…sie sind geblieben und haben immer den Platz in meinem Leben behalten. Sie haben mein Überleben in dieser verworrenen und verlogenen Welt sauber und klar gehalten. Dazu steht auch meine tiefe Erinnerung an eine liebe und wissende Zeugin in dieser Zeit; eine liebe und ehrliche Putzfrau mit Namen Maria , die meine ganze Einsamkeit, mein Heimweh, meine Ablehnung gegen meine Eltern wahrgenommen hat. In einem Ihrer Bilder entdeckte ich ihr sanftes und gütiges Gesicht, das ich nicht vergessen kann. Sie linderte in ihrer unkomlpizierten und natürlichen Art wie ein heilsames Bild diese großen und tiefen Schmerzen in einem Kind, das hier und dort nicht hingehörte und das auch nicht zu spüren wagte, dass man es gar nicht wollte, sogar hätte abtreiben lassen (O-Ton meiner Mutter). Das Gefühl von nicht zu wissen, wozu man eigentlich auf dieser Welt ist oder wohin gehört man eigentlich!?- Es ist ein fürchterliches Gefühl!- eine oft gnadenlose Daseinsberechtigung mit Überforderung ohne Ende und einer Sehnsucht, die die die Unendlichkeit führt und nie gestillt werden kann.
Wie lange wollte ich diesem Bild glauben oder es besser wissen, dass meine Eltern mich doch wahrscheinlich liebten? In der Verlogenheit meiner damaligen Umgebung und Familie war ich eh nie ganz für vollgenommen und ein exotischer “Andersartiger”.
Doch wie mühsam und abwegig mein Suchen auch gewesen sein mag…meine Irrwege spiritueller und esoterischer Art waren letzten Endes ein nie befriedigendes Resultat oder eine Antwort auf meine Fragen – nur billige Vertröstungen und Schonungen, die wie dunkle Schattenbilder immer tiefer in mein ganzes Dasein zogen und mir ungeheuere Schuldgefühle einjagten, die mir bereits als kleines Kind wie ein Gift eingespritzt wurden.
Das angebliche Leben von Damals hat sich Heute in der Begegnung mit mir selbst und in den vielen Büchern, Texten, Bildern, Artikeln auf Ihren Seiten ein wahreres Bild geschaffen, das ich fast nicht für möglich gehalten hätte und mich trotz mancher Rückschläge..nicht vom Weg abkommen läßt.
Ich verschweige damit aber nicht, dass es nicht unbedingt leicht und beschaulich in meinem Leben zugegangen ist und “das Heimkind” von hier nach dort geschickt wurde oder mit klugen Sprüchen in viele Richtungen geschickt wurde, um sich wieder selbst aus den Augen zu verlieren und sich wieder in Luft auf zu lösen.
Ihre Bilder wirken sehr nah auf mich und erinnern mich an die so weit zurückliegenden eigenen von damals, aber sie sind nicht verloren gegangen und schreibe:” Wir sehen jetzt, was damals zu sehen unmöglich war”.
Liebe Frau Miller, Ihnen, Ihren Kollegen/innen und Ihrer Leserschaft weiterhin alles, alles Gute.
Mit den besten Wümschen und Grüßen., JS.
AM: Sie waren ganze neun Jahre zum Nichtfühlen verdammt. Aber auch schon vorher lebten Sie als Kind, das man hatte abtreiben wollen. Da sammelte sich ein Meer von Traurigkeit, die sich nirgends Platz verschaffen konnte. Aber Sie hatten Maria und hatten die Bilder, die Ihnen halfen, Ihre Gefühle zu retten. Denn in Ihrem Brief spürt man etwas von dieser unendlichen Traurigkeit. Das hat Ihnen das Leben gerettet. Das spürt man in Ihrem Brief auch. Mit den Erinnerungen an das Internat kommt vielleicht eines Tages die berechtigte Wut, die man damals nicht fühlen durfte