Gedächtnis 2

Gedächtnis 2
Wednesday 02 July 2008

Gedächtnis 2

Liebe Alice Miller,
Sie meinen, man könnte viele Gespräche führen mit Lehrern,Therapeuten, Pfarrern,die als Reaktion Floskeln und Angstabwehr ergeben würden. In der Regel haben Sie damit sicher recht. Muß das unbedingt so sein? Besteht keine Hoffnung?
In “Gedächtnis” von Squire und Kandel heißt es: “Aus der Erforschung des Gedächtnissystems des Gehirns haben sich drei Befunde herauskristallisiert, die gegenwärtig für unser Verständniss eine zentrale Rolle spielen: Erstens ist das Gedächtnis keine einheitliche Eigenschaft des Geistes,sondern setzt sich aus zwei grundlegenden Formen zusammen: deklarativ(bewußt) und nichtdeklarativ. Zweitens hat jede dieser beiden Formen ihre eigene Logik-bewußter Abruf im Gegensatz zu unbewußt ausgeübter Fertigkeit. Drittens verfügt jede Form über ihre eigenen neuronalen Systeme.
Die molekulare Erforschung der Mechanismen der Gedächtnisspeicherung hat ihrerseits unerwartete Ähnlichkeiten zwischen deklarativen und nichtdeklarativen Formen des Gedächtnisses aufgedeckt. Beide Formen des Gedächtnisses verfügen über eine Kurzzeitform, die Minuten anhält,und eine Langzeitform, die tagelang oder länger andauert. Beide Gedächtnisformen, die Kurzzeit- und die Langzeitformen, hängen von einer Veränderung der synaptischen Stärke ab. In beiden Fällen erfordert die Kurzzeitspeicherung nur eine vorübergehende Veränderung der synaptischen Stärke. Hingegen ist in beiden Fällen die Aktivierung von Genen und Proteinen nötig, um Kurzzeit- in Langzeitgedächtnisinhalte zu überführen.”

Was bedeutet: Langzeiterinnerung braucht Zeit zur Etablierung, vor allem,wenn schon andere, blockierende Erinnerungen vorhanden sind. Vielleicht ist gar nichts möglich,vielleicht festigt sich erst im fünften oder zehnten Gespräch etwas, auf jeden Fall muß die Information ins Kurzzeitgedächtnis, als Lernvorgang nicht nur einmal.
Meine Erfahrung sagt mir, daß dranbleiben sich lohnt. Es ist sogar möglich,das Gedankengut von Alice Miller in einen Weihnachtsgottesdienst auf die Kanzel zu transportieren, in dem der Prediger darüber nachdenkt, (in bezug auf das Christkind), wie wir versuchen, die Kinder zu erziehen und zu formen, obwohl doch der Zustand der Kinder ins Himmelreich führt.
Die Erkenntnisse über die Vorgänge im Gehirn führen auch zu deutlichen Vorstellungen von der Wirkung von Therapeut und “wissendem Zeugen”: wenn ein Therapeut nicht in der Lage ist, den Zustand des Hilfesuchenden wahrzunehmen, festigt er dessen Zustand, da dieser Zustand durch Nichtwahrnehmen überhaupt erst entstanden ist (durch die Bezugspersonen in der frühen Kindheit). Im günstigsten Fall verstärkt er die krankmachenden Strukturen (ungewollt) so, daß, bildlich gesprochen das Faß überläuft und ein Umbau der Strukturen erfolgen kann. (Intensiv beschrieben in dem autobiografischen Roman “Schattenmund” von Marie Cardinal).
Im Gegensatz dazu regt der wissende Zeuge das Gehirn des Hilfesuchenden so an,daß es andere als die gewohnten Strukturen und Bahnungen benutzt. Damit wird den krankmachenden Strukturen Kapazität entzogen, am besten gesteigert durch sensorische Unterstützung. Durch diese wiederkehrenden Erfahrungen lassen sich dann im Laufe der Zeit neue Erinnerungen etablieren.die den alten ihre Wirkung nehmen. Das Gehirn wird dabei strukturell und sichtbar umgebaut.
Eine Argumentationskette möchte ich hier noch anfügen,die in Gesprächen (bei mir jedenfalls) gute Chancen hat, Wirkung zu erzielen: Jedes gesunde Baby kommt auf die Welt mit der Fähigkeit des Mitfühlens. Ein Baby nimmt das Lachen seiner Mutter auf und lacht selbst. Wenn ich dir (Ihnen) jetzt wehtun würde, würde ich mir selbst wehtun, denn ich empfinde ja mit Ihnen(Dir).
Ich will mir aber nicht wehtun, deshalb werde ich immer vermeiden, jemandem anderem wehzutun.
Warum tun sich dann Menschen weh? Einfach, weil sie die Fähigkeit des Mitfühlens verloren haben. Je mehr die Emotionsabläufe eine Kindes beeinflußt werden, umso mehr paßt sich dieses an. Damit verliert es den Bezug zu seinen eigenen Gefühlen und leider auch die Fähigkeit zum Mitgefühl. Das ist der Grund, warum Menschen andere Menschen töten, verhungern lassen, sich an ihnen bereichern oder ihnen ihren Willen aufzwingen wollen.
Es ist für mich dann immer wieder umwerfend, wie schnell Menschen die Tragweite solcher Beschreibungen erfassen können, wenn es für sie völlig neue Gedanken sind.

Liebe Alice und alle,die mit Ihnen sind: Wir haben den mächtigsten Verbündeten, den es gibt: die Wirklichkeit! Aus ihr kommen wir und ihr können wir (zum Glück) nicht entfliehen.

mit liebem Gruß, I. K.

AM: Warum sollten Sie nicht versuchen, Menschen mit der Wirklichkeit zu konfrontieren und sie zum Nachdenken anzuregen? Natürlich kann man es nicht ausschließen, dass dies möglich ist und Ihnen gelingen kann.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet