Parallelen der Gewalt
Friday 16 May 2008
Liebe Alice Miller, liebe Barbara,
der Fall Amstetten triggert mich enorm. Ich bin eine Frau, die schwere physische und psychische Misshandlungen durch Vater und Mutter mühsam überlebt hat und sich nun dank der Bücher und Aufsätze von Alice Miller, Barbara Rogers, Thomas Gruner (alle auf dieser Site oder über links zu finden) und dank des Forums rettet, um endlich ein selbstbestimmtes, freies und erfülltes Leben führen zu können.
Ich erkenne in diesem widerwärtigen Schänder und Lebenszerstörer Fritzl meinen Vater wieder, und ich verstehe sehr gut, warum das Foto des Amstettener Verbrechers, dem man in allen Medien ständig ausgesetzt war, vor meinen Augen mit dem Gesicht meines Vaters verschmolz. Auch wenn mein Vater mich nicht in einem realen Folterverließ gefangen hielt und ich die unendlichen Qualen der Elisabeth F. und ihrer Kinder auf keinen Fall relativieren will – wie könnte man ihr unfassbares Leid je ermessen! – so gibt es Parallelen. Das Gewaltpotential meines Vaters gleicht dem Fritzls. Ich spüre, wie gut es für mich und mein Inneres Kind ist, dies hier öffentlich auszusprechen.
Sie sind aus einem Holz geschnitzt, sie sind mit den gleichen Wassern gewaschen. Gnadenlose, sadistische Verbrecher, deren Handeln und Verhalten von blanker Willkür, Despotie, Hass, Unbeherrschtheit, Grausamkeit und Perversion bestimmt sind. Sie rächen ihre eigenen verdrängten, nie gefühlten Verletzungen an ihren wehrlosen, abhängigen Kindern mit einer Wucht, die entsetzt. Auch mein Vater (und meine Mutter) hat mich und mein Inneres Kind in einem – im übertragenen Sinn – Gefängnis aus verletzenden, demütigenden, zerstörerischen Handlungen und giftigen Botschaften gehalten, angekettet durch lähmende Angst. Auch er ist wie F. raffiniert, schlau, kennt die Reaktionsweisen einer uninformierten, trägen, nicht merken wollenden Öffentlichkeit. Es gibt ein Zielpublikum für Täterstimmen! Auch mein Vater versteht es, die Öffentlichkeit zu täuschen und eigenes Verbrechen und Versagen zu kaschieren und so zu drehen, um mir und anderen Opfern auch noch die Schuld daran zuzuschieben: die Verdrehung von Ursache und Wirkung („Du sollst nicht merken“!). Das Vierte Gebot ist mächtig, immer noch.
Diese gerissenen, widerwärtigen Täter versuchen, selbst die schlimmste Folter und Grausamkeit zu relativieren, zu rechtfertigen, gar noch als „barmherzige Notwendigkeit“ zu verkaufen. Fritzl „feierte“ mit seinen Folteropfern Weihnachten und Geburtstage; er brachte seinen Sklaven Geschenke aus Thailand (wo er wiederum schändete) mit, wie man u. a. lesen konnte. Ein Zynismus, der mir den Atem raubt. Hinzu kommt der Hang zu ekelhafter Sentimentalität – die immer dann auftritt, wenn wahres Gefühl fehlt.
Aber es gibt leider ein wohlwollendes Zielpublikum für solche Aussagen, und die Angst, dass F. zum erneuten Schaden seiner Opfer damit auch noch punktet und geschont wird, ist berechtigt.
Dieser Fall ist auch nicht typisch für Österreich – wie feige und blind ist denn diese Diskussion, die nur von der ganz schlichten, klaren Wahrheit ablenken soll: Gewalt führt zu Gewalt, immer und überall. Ein von der Mutter „mit Fäusten erzogenes“ Kind rächt sich stellvertretend brutal am eigenen Kind und weiteren Wehrlosen (die Kinder-Enkel; die Opfer in Thailand etc.). Ich kann es nur einmal mehr wiederholen; es wurde in den bisherigen diesbezüglichen Zuschriften und in den Antworten von Alice Miller und Barbara bereits ausführlich besprochen.
Der Fall Amstetten, der durch das erschütternde Ausmaß an perfider Gewalt wie ein an die Oberfläche gezogener, nun gut sichtbarer riesiger Eisberg herausragt, steht meines Erachtens auch für ALLE Fälle von Kindesmisshandlung – überall, jederzeit. Während diskutiert wird und „Experten“ sich aus Angst vor der eigenen Wahrheit winden, ohne große Verletzung des Vierten Gebotes über die Runden zu kommen, werden – überall und jederzeit, unabhängig von nationaler Zugehörigkeit – weiter Kinder und Jugendliche misshandelt, gefangen gehalten, geschlagen, gedemütigt, vergewaltigt, zerstört – und zu neuen Tätern deformiert.
Ich danke Ihnen für Ihr unerschütterliches Eintreten für die Wahrheit. Wer Ihre Bücher verstanden hat, kann nicht nur sein Inneres Kind und seine Gefühle wiederfinden, also sein Leben retten, sondern wird auch zu einem Multiplikator. Ich wünsche uns allen, dass die Zahl derer, die merken und merken wollen, die den Kreislauf von Gewalt in sich und in ihren Familien unterbrechen, schnell und kräftig ansteigt.
Sie und Barbara haben mir am 30.03.08 auf meinen Brief „Opfer und Täterin gleichzeitig“ so hilfreich geantwortet. Barbara schrieb: „Die Auflehnung und Empörung führen uns aus den uns aufgezwungenen Schuldgefühlen heraus, und sie schenken Ihnen auch immer mehr Freiheit, für die Gefühle und Bedürfnisse Ihrer Tochter offen zu sein.“ – mit dem Hinweis auf Alice Millers Teil F in „Dein gerettes Leben“ : Aus dem Tagebuch einer Mutter.
JA!! Sie haben so Recht!!! Genau SO läuft es nun bei mir ab: ich spüre mich und meine Bedürfnisse, ich spüre und sehe auch die meiner Tochter (die ich unbewusst aber zwangsläufig deutlich geschädigt hatte, ich war keine Ausnahme, wie auch). Ich habe bereits dank der neuen Energie, die mir durch mein Inneres Kind, zu dem ich nun Kontakt habe, zuwächst, gewaltige Veränderungen auf den Weg gebracht, die Meilensteine werden, zum Beispiel werden wir in eine andere Stadt ziehen; eine dringend notwendige Korrekturmaßnahme.
Ich bin endlich erwacht, ich fühle; ich leide noch sehr, oft bis an die Grenze des Erträglichen, es gibt Rückschläge, gerade in der tiefen Angst vor meinem Vater und seinen Introjekten, mit denen ich noch sehr kämpfe – aber ich bin auf MEINEM WEG! Mein Körper, den ich nun immer besser verstehe und der deutlich zu mir spricht, gibt mir jetzt gerade im Moment die Bestätigung mittels einer Gänsehaut!
Sie, also Alice Miller und Barbara, Sie retten mein Leben, sie retten das meiner jungen Tochter, wie sie das von so vielen anderen Opfern gerettet haben und weiterhin retten; ich möchte es erneut aussprechen.
Haben Sie ganz ganz großen Dank!!
Ihnen weiterhin großen Erfolg und Kraft – und ganz viel Lebensfreude!
Es lebe die Wahrheit, die ich niemals mehr verleugnen oder verstecken werde!
Herzlich, Ihre S. B.
AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Dieser Fall hat vermutlich viele Frauen getriggert und alte Schmerzen aufgeschwemmt. Aber nur wenige haben die Bereitschaft, mit Hilfe dieser Triggers an sich zu arbeiten. Man nimmt das Gehörte zur Kenntnis und versucht, es so schnell wie möglich zu vergessen, weil diese Geschichte so abscheulich ist. Aber sie hat Parallelen, wie Sie sagen. Ich bin froh, dass Sie den Mut hatten, diesen nicht auszuweichen.