Nachahmung trotz Einsicht?

Nachahmung trotz Einsicht?
Wednesday 08 July 2009

Liebe Frau Miller,

vielen vielen Dank für Ihre Antwort (Die mütterlichen Muster), Sie haben mir geholfen, etwas zu sehen, was ich vorher nicht gesehen habe. Nämlich die Sichtweise meines Kindes.
Ich habe mich nun 2 Tage intensiv mit dem Thema Wickeln beschäftigt, einiges ausprobiert und bin zu einer Lösung gekommen: Das Wickeln selbst ist nicht das Problem, sondern dass ich es dann tue, wenn ICH es für richtig halte, und nicht wenn MEINE TOCHTER DAFÜR BEREIT IST. Dabei ist es so offensichtlich, es geht ja schließlich um sie, also sollte ich auf ihre Signale achten. Es ist nicht verwunderlich, wenn sie gerade zufrieden spielt und ich sie plötzlich aus dem Spiel herausreiße und wickle, weil ich eben gerade die volle Windel bemerke, die sie selbst aber überhaupt nicht stört.
Denn wenn ich etwas warte, bis sie selbst bereit ist, wehrt sie sich überhaupt nicht mehr! Sie lässt sich sogar dabei leicht amüsieren, spielt währenddessen mit einer frischen Windel und hat vielleicht sogar dabei das Vergnügen, dass sie ein bisschen mithelfen kann. Auch im Stehen Wickeln gefällt ihr ausgenommen gut! Hab ich vorher nie ausprobiert, ich bin nur durch Ihre Antwort auf die Idee gekommen, herauszufinden, warum sie wickeln so gehasst hat.
Ich bin auch sicher, dass Sie recht haben, dass ich Angst vor meiner gerade aufkeimenden Wut auf meine Mutter habe. Ich bin so wütend und empört, seit ich SEHE, und trotzdem ist da noch das kleine Kind in mir mit dem schlechten Gewissen, das die Liebe seiner Mutter nicht verlieren möchte. Erschwerend kommt vielleicht noch hinzu, dass mein Vater gestorben ist als ich 3 Jahre alt war. Ich kann mich wohl nicht an ihn erinnern, aber ich habe seitdem eine überdimensionale Verlustangst was meine Mutter betrifft. Diese fängt erst jetzt an, sich zu relativieren.
Warum hilft mir meine Einsicht, welche Fehler meine Mutter gemacht hat, nicht bei meinem Kind? Ich spüre, dass mir mein Kind manchmal deswegen auf die Nerven geht, weil ich meiner Mutter auf die Nerven gegangen bin, als ich klein war. Sie “mußte” immer arbeiten, und hatte keine Zeit für mich, ich war ein Klotz am Bein. Ein geliebtes Wunschkind, dennoch ein Klotz, der ihr die Arbeit erschwert hat. Ich war ein angebliches Schreibaby, meine Mutter hat keine Möglichkeit gefunden, mich zu beruhigen, dabei hätte sie doch den Schlaf so dringend benötigt, weil sie ja immer arbeiten mußte. Wenn ich darüber nachdenke, wird mir schlecht! Allein die Vorstellung zu arbeiten, wenn man ein kleines Neugeborenes bekommen hat, ist so unverständlich!!!
Ich habe meine Tochter die ersten Monate fast immer im Tragetuch gehabt, sobald sie geschrien hat, und sie war sofort glücklich und zufrieden. Vielleicht hätte man mich auch einfach nur tragen sollen, statt weglegen. Meine Mutter hat sogar gemeint, ich VERWÖHNE meine Tochter mit dem Tragetuch. Ich soll sie nicht dauernd tragen, sonst schreit sie nur noch mehr. Da kann man sich ja vorstellen, wie ich als Kind behandelt wurde. Wie kann man glauben, man könnte ein Baby verwöhnen? Wo es doch ganz rein und unschuldig ist und einfach nur SEINE MUTTER BRAUCHT?
Und warum verfalle ich jetzt, wo meine Tochter ihren eigenen Willen entwickelt, trotzdem in die Muster meiner Mutter????? Obwohl mir das alles so sonnenklar ist?

Mit lieben Grüßen, KP

AM: Sie stellen eine wichtige Frage: Warum wiederholen Sie die Muster Ihrer Mutter, wenn Sie deren Schädlichkeit schon erkannt haben? Weil die intellektuelle Einsicht nicht genügt, um den Wiederholungszwang aufzulösen, nur die begleitenden Gefühle können dies bewirken: der Zorn und die Trauer darüber, dass Sie sich in der Kindheit als lästig erleben mussten. Hätten Sie diesen Zorn ausgedrückt, wären Sie schwer bestraft worden dafür. Daher mussten Sie diesen Zorn in der Kindheit unterdrücken. Er meldet sich erst jetzt, weil Sie ihn auf Ihre Tochter richten können, um so der mütterlichen Strafe zu entgehen. Es ist wichtig, dass Sie die alte Angst vor der mütterlichen Strafe überwinden können, dass Sie Ihre Gefühle dahin richten dürfen, wo sie hingehören, um Ihre Tochter so lieben und verstehen zu können, wie Sie es möchten und wie Sie eigentlich in der Lage sind, weil Sie lernfähig sind und ihren Willen NICHT brechen wollen, wie Ihre Mutter es mit Ihnen getan hat. Heute kann niemand Sie bestrafen, ausser wenn Sie dies selbst provozieren – aus unbegründeten Schuldgefühlen. Es war doch nicht Ihre Schuld, dass Ihre Mutter Sie als lästig erlebte, als sie überarbeitet war.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet