Frage zu

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Saturday 15 December 2007

Sehr geehrte Alice Miller,

ich lese gerade mit großem Interesse Ihr o.g. Buch. Erst einmal finde ich es toll, wie mutig Sie ihre Erkenntnisse und Erfahrungen präsentieren. Das macht mir Mut, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

In Bezug auf meine eigene Geschichte habe ich das Gefühl, dass mir die geschilderten Erfahrungen, die Sie in Ihrem Buch zusammenfassen, schon früh intuitiv klar waren. Schon mit 10 oder 11 Jahren habe ich mir erlaubt, meine Eltern zu hassen und habe mich vor ihnen geschützt. Geholfen hat mir dabei das Beispiel der Familie einer Freundin. Dort habe ich gesehen, wie es eigentlich sein sollte. Wie Eltern eigentlich mit ihren Kindern umgehen sollten. Ich selber wurde nicht sehr viel geschlagen, aber war Zeugin der Schläge, die meine Mutter an meine ältere (Stief-)Schwester ausgeteilt hat. Mich würde ich als vernachlässigtes Kind bezeichnen, das zu wenig Liebe und Interesse bekommen hat. Irgendwie wurde mein Wille gebrochen. Mit ca. 18 Jahren wurde mir klar, dass ich meine Bedürfnisse ganz schlecht wahrnehmen konnte. Ich wußte zum Beispiel nicht einmal, wann ich Hunger hatte.

Seit ca. 10 Jahren (jetzt bin ich 33 Jahre alt) versuche ich, mich mit Hilfe von Gruppentherapie, Einzeltherapie und anderen therapeutischen Angeboten von meinen Kindheits- und Jugenderfahrungen zu heilen. Vor ein paar Jahren habe ich die Methode des Co-Counceling entdeckt. Dabei handelt es sich um eine „privat“ organisierte Therapie im Rahmen der weltweiten Counceling-Gemeinschaft. Es wird (meist zu zweit, aber auch in Gruppen) Zeit ausgetauscht, in der wir einander uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenken. In dieser Zeit ist für den Klienten Platz für alle Gefühle, die hochkommen. Dabei wird besonderer Wert darauf gelegt, immer wieder zu den frühen schmerzhaften Gefühlen zurückzugehen und sie in Begleitung des Councelers oder der Gruppe nochmal zu durchleben und dabei neu zu bewerten. Die Methode heißt auch Neu-Bewertungs-Counceln. Wir sind dann, wie Sie es nennen, „wissende Zeugen“ füreinander und stehen als Counceler immer auf der Seite des Klienten bzw. des Kind im Klienten. Mich würde interessieren, ob Sie schon von der beschriebenen Methode gehört haben und wenn ja, was Sie von ihr halten.

Während ich durch das Arbeiten an meinen frühen Gefühlen merke, dass ich immer freier in meinem Leben werde, gibt es in den letzten Monaten eine Frage, die mich mal mehr, mal weniger beschäftigt und in dem o.g. Buch nicht ganz beantwortet wird. Ich frage mich, was für ein Verhältnis ich zu den realen jetzigen Eltern überhaupt haben kann und haben möchte. Es ist für mich harte Arbeit, mich von meinen Eltern zu befreien. Ich hatte einen ganz starken Drang, Ihnen zu helfen, glücklicher zu werden. Darüber bin ich nun dank großer Anstrengungen hinaus. Andererseits hat mein Bemühen und meine Sorgen um sie in den letzten Jahren meine Beziehung zu Ihnen bestimmt. Seitdem ich sie sich selbst überlassen kann, ist für mich der Kontakt auf einmal völlig sinnlos. Mich interessiert nicht, was sie erzählen. Es sind nicht die Menschen, die ich mir frei als Freunde oder Bekannte wählen würde. Besuche bei Ihnen ziehen mich runter, da ich mit ihren unmöglichen Lebensumständen konfrontiert werde. Andererseits erscheint es mir auch sehr anstrengend, die Beziehung ganz abzubrechen. Es können doch nicht alle mißhandelten Kinder die Beziehung zu ihren Eltern abbrechen, oder? Wer kümmert sich denn um die ganzen alten Menschen? Sicher spielen Schulgefühle eine Rolle, in der Beziehung zu meinen Eltern allein meinem Gefühl zu folgen, gar keinen Kontakt mehr zu ihnen haben zu wollen.

Dann habe ich noch einen letzten Punkt. Sie schreiben an einer Stelle in Ihrem Buch, dass sie daran arbeiten, eine Telefonhotline für misshandelte Kinder bzw. für Erwachsene, die als Kinder misshandelt wurden, einzurichten. Das hat mich darauf gebracht, dass ich sehr großes Interesse habe, solche Arbeit zu leisten. Auch in dem Sinne, in dieser Gesellschaft einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen. Leider habe ich nicht Psychologie, sondern Soziologie studiert. Ich plane, im Februar eine Ausbildung zur Heilpraktikerin zu beginnen. Vielleicht werde ich auf diesem Weg in ein paar Jahren beratend und unterstützend tätig werden können. Sollte es in Berlin schon eine Initiative in diese Richtung geben, wäre ich dankbar, wenn ich Sie mir einen Kontakt nennen könnten.

Herzliche Grüße von D. F.

AM: Ich habe schon einiges über die Methode Co-Counceling gehört. Der Erfolg hängt davon ab, wie weit die TeilnehmerInnen sich von der schwarzen Pädagogik befreit haben. Wenn Sie nicht mehr unter dem Zwang stehen, ihre Eltern schonen zu müssen, wenn sie die wichtige Rolle der Wut verstehen, können sie als wissende Zeugen Hilfe leisten. Ihre zweite Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, da müssen Sie Ihren Körper befragen. Wenn Ihre Gesundheit unter den Besuchen bei den Eltern leidet, müssen Sie entscheiden, ob Sie dieses Opfer bringen wollen und abklären, weshalb. Sie schreiben, auch misshandelnde Eltern hätten das Recht auf die Pflege ihrer Kinder. Das verstehe ich nicht. Warum sollte man sich nicht lieber von fremden Leuten pflegen lassen statt von Menschen, denen man schwer geschadet hat, manchmal lebenslang, und die ihre Gefühle auf Kosten der eigenen Gesundheit verleugnen müssen, weil die Lüge in der ganzen Gesellschaft höher geschätzt wird als die traurige Wahrheit? Wird der Schaden nicht noch verdoppelt?
Meine Initiative für ein SOS Telefon hat kein Echo gefunden, es haben sich einige Frauen zur Verfügung gestellt, aber es kam gar kein einziger Anruf. Das ist sehr bezeichnend. Wenn man unter dem starken, blinden Impuls steht, das Kind zu schlagen, wie es die Eltern einst getan haben, erlebt man sich offenbar nicht als hilfsbedürftig, sondern als „gerecht“. Zumindest diejenigen, die noch nie darüber reflektiert haben.
Es gibt angeblich in Berlin eine Gruppe, die sich ourchildhood nennt und die sich regelmässig trifft. Ich kenne aber die Adresse nicht.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet