Schuldgefühle abbauen

Schuldgefühle abbauen
Monday 12 June 2006

Liebe Alice Miller,

ich bin schon seit vielen Jahren in Therapie, und dabei lernte ich vieles wichtige über meine eigene schreckliche Geschichte. Mein 14 Monate alter Bruder starb an Gehirnhautentzündung als meine Mutter mit mir schwanger war. Meine Mutter starb als ich drei Jahre alt war völlig überraschend während einer Schwangerschaft. Meine Stiefmutter – mein Vater heiratete kurze Zeit nach dem Tod meiner Mutter ein zweites Mal – meine Stiefmutter war also chronisch gewalttätig und hat Ihren Zorn an meinem meistens abwesenden Vater an mir ausagiert. Während einer solchen Attacke von Ihr wurde ich offenbar bewusstlos und hatte eine “Out of Body” Erfahrung. Als ich wieder zu mir kam, stand meine Stiefmutter in der Türe des Zimmers und blickte auf mich, offensichtlich schaute Sie ob ich noch lebe!

All dies war mir früher nicht bewusst, ich habe mit jahrelanger schwerer Krankheit auf diese Situation reagiert. Heute weiß ich vieles, und die emotionale Erfahrung und Einordnung dieser Erlebnisse ist nach wie vor im Gange. Endlich bin ich nicht mehr dazu bereit, meine Stiefmutter zu bedauern (sie war ja alleine mit vier Kindern und überfordert und ein Flüchtlinskind usw.) und meinen Vater zu verteidigen (er musste den Verlust seines ersten Sohnes und seiner Frau verkraften, ist aus einer sehr konservativen Familie wo man Gefühle nicht zeigte, und war beruflich sehr engagiert etc.) Gewisse Probleme bleiben aber für mich bestehen, und dazu habe ich jetzt eine ganz konkrete Frage, die Ihnen vielleicht geläufig ist:

Ich erlebe mich als innerlich vielschichtige Persönlichkeit – es gibt da z. B. den Ausdruck “the inner parliament”: Also da gibt es ein völlig verschrecktes, zuneigungsbedürftiges kleines Kind, es gibt einen Erwachsenen der sehr zielstrebig ist, es gibt den nach Geltung strebenden Anteil, es gibt ein Kind das offensichtlich alles blockieren will, und dem man nichts recht machen kann. Manchmal weiß ich dann gar nicht, was ich denn eigentlich tun soll, wie ich mich entscheiden soll, und welcher dieser Anteile jetzt “ich” bin. Haben Sie Anhaltspunkte, wie Ihrer Meinung nach eine “Integration” dieser Teile möglich ist, und wie ich ein Zusammenwachsen dieser Teile bzw. einen guten Kontakt dieser einzelnen Teile untereinander unterstützen kann?

Für eine Antwort wäre ich Ihnen dankbar!

Mit lieben Grüssen aus Österreich
B. L.

AM: Sie scheinen bereits einen langen Weg zurückgelegt zu haben und wissen schon viel über die Geschichte des Kindes, das Sie waren. So können Sie die Zusammenhänge verstehen. Je mehr Empathie Sie diesem Kind entgegenbringen, um so mehr wird es sich wagen, Ihnen mit Hilfe des Körpers und der Träume zu erzählen, wie furchtbar es gelitten hat, als es sich immer wieder für die empfangenen Misshandlungen noch schuldig fühlen sollte und nicht sehen durfte, wer wirklich schuldig war. Bei all diesen Mitteilungen werden Sie ihm aufmerksam zuhören und immer von neuem erklären müssen, dass es ein Opfer von Grausamkeiten war (egal ob beabsichtigten oder nicht) und NICHTS, absolut nichts verschuldet hatte, um so brutal behandelt zu werden. So bekommt das ehemalige Kind in Ihnen endlich den wissenden Zeugen, der ihm ermöglichen wird, ein fühlender Erwachsener zu werden.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet