Bitte um Hilfe
Wednesday 03 October 2007
liebe frau miller,
ich wende mich heute an sie, vielleicht weil ich einen entscheidenden anstoß brauche, um dem unbarmherzigen übel, das ich derzeit erleide, die stirn zeigen zu können. seit beginn meines lebens muss ich mit allem allein fertig werden. zuerst bei meiner geburt, dann im säuglingsheim, sodann in meiner familie und später bei freunden. irgendwie war niemand bereit, mich wirklich wahrzunehmen. ich blieb mit meinem kommunikationsbedürfnis völlig allein. es kann für einen menschen wohl keine schlimmere hoffnungslosigkeit geben, als sich ganz allein in einer öden wüste zu befinden. so habe ich es jedenfalls empfunden.
seit meiner adoloszenz begleiten sie mich mit ihren büchern. es gab schlicht und weg nur sie, die ein ohr für die geschundenen kinder besaß. geschunden von eltern, die vorgeben, ihre kinder zu lieben. schon als kind konnte ich mir eine innere instanz aufbauen, die mich als person mit all ihren gefühlen nicht einfach ignorierte. jedoch ist dieser umstand vermutlich meiner lebensgeschichte geschuldet. meine mutter war als bezugsperson nie existent. mit meiner ersatzmutter konnte ich zwar lebensfreude genießen, wenngleich sie mit verdeckten sexuellen übergriffen verbunden war. erst als ich die gefühle des kleinen michael nachempfimden konnte, wurde mir erst die sexuelle komponente ihrer übergriffe bewusst.
der druck der sozialen existenz brach auf mich ein, als ich mitte dreißig war. ich holte das abitur nach und studierte danach jura. damit begann ein teuflischer prozess der schleichenden selbstentfremdung. während der abendgymansiumszeit bekam ich zuerst eine starke lumbalgie, die mich absolut bewegungsunfähig machte. davon konnte ich mich aber wieder relativ rasch erholen. doch das jurastudium brachte mich letztendlich total neben meine lebensspur. so hörte ich auf, gitarre zu spielen, obwohl das spielen der gitarre meine ganz große leidenschaft gewesen ist. besiegelt wurde das ganze mit dem ausbruch von multiple sklerose, die noch immer einen ganzen rattenschwanz von sekundärfolgen nach sich zieht. wie sich herausgestellt hat, muss ich schon lange an multiple sklerose leiden. vor meinem jurastudium schränkte sie mich jedoch nicht ein. nach dem studium ist die symptomatik voll ausgebrochen. ein jahr später bekam ich einen schweren bandscheibenvorfall im halswirbelbereich. dieser musste sogar notoperiert werden. seitdem habe ich linksseitig feinmotorische störungen und kann keine gitarre mehr spielen. jetzt schmerzt mich sehr stark beim wegstrecken des armes vom körper die linke schulter, im übrigen sind alle meine körperlichen einschränkungen mehr auf der linken seite angesiedelt. das mrt der schulter offenbart eine starke degenerierung, verbunden mit einer massiven entzündung. der rat des arztes lautet, ich käme an einer operation nicht vorbei. wie sie habe ich diesbezüglich auch dieselben beobachtungen gemacht: menschen, die nicht fühlen und wahrnehmen, wie ihre geliebten eltern, ihnen in wahrheit keine liebe geben konnten, werden mit großer wahrscheinlichkeit in vielfältigerweise körperlich dekompensieren. ich weiß aber von mir, dass ich fühle. trotzdem hat mich diese heimtückische krankheit ereilt. sicherlich hat das viel mit meiner ersatzmutter zu tun. bei ihr habe ich die dunklen löcher in meiner erinnerung. als kind hatte ich des öfteren diesen ambivalenten traum über sie. tagsüber erschien sie mir als liebevolle frau und abends als böse hexe im keller, die mir nach dem leben trachtete. beide frauen, sowohl meine mutter als auch meine ersatzmutter, hatten den vorsatz, mich nie zu schlagen. meine ersatzmutter hielt sich nicht immer an diesen vorsatz. doch kann ich mich an ihre übergriffe kaum erinnern. ich war als kleines kind so ausgedürstet nach berührung mit einem menschen, der mich wahrnahm und mit dem ich in beziehung treten konnte. an meine geburt kann ich mich dagegen erinnern.
mir ist klar, dass die symptomatik der multiple sklerose psychosomatischen ursprung hat. daher suche ich verzweifelt einen psychologen, der in meine lebensgeschichte einfühlen kann. allein kann ich mir nicht helfen. wenn das dilemma so weitergeht, dann werden möglicherweise die desaströsen körperzustände in meinem somatosensorischen bereich des gehirns derart dominant und die ursprünglich gesunden körperzustände irreversibel verdrängen. meine suche nach einem geeigneten therapeuten ist seit zwei jahren total vergeblich. sämtliche therapeuten, denen ich bislang begegnet bin, demonstrieren mir nur ihre inkompetenz, obwohl sie kompetenz in diesen dingen vorgeben. ich frage mich dann, wie kann es sein, dass solche maschinenmenschen so einen verantwortungsvollen beruf ausüben können. ihnen scheint die verantwortung, die sie auf sich genommen haben, gar nicht bewusst zu sein. darum verstehe ich die vielen menschen nur allzu gut, die sie, frau miller, stets nach geeigneten therapeuten fragen. wie haben sie denn ihre therapeuten gefunden, die ihnen weiterhelfen konnten? sicherlich haben sie sie aus eigener tasche zahlen müssen. leider befinde ich mich finanziell nicht in dieser privilegierten situation, schon gar nicht in der, einen geeigneten therapeuten wie sie gefunden zu haben. ich befinde mich stattdessen in einer hoffnungslosen sackgasse. mein lebensmut verlässt mich allmählich. was mich am leben hält, sind die unzähligen kinder, die ich in ihrem elend nicht im stich lassen will.
besten gruß, M. D.
AM: Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, außer mit meinen Schriften. Was mir half, war mein Wille, meine Kindheit genau kennenzulernen und meine Gefühle zu verstehen. Ich hoffe, dass Sie für sich selbst werden leben wollen und nicht für die vielen Kinder, die Ihr Leben brauchen, wie Sie am Schluss Ihres Briefes schreiben.