Krankheitssymptome als Sprache des Körpers

Krankheitssymptome als Sprache des Körpers
Wednesday 01 March 2006

Sehr geehrte Frau Miller,

lange habe ich gezögert, mich auf diesem Weg an Sie zu wenden. Nachdem ich aber seit dem Sommer 2005 systematisch Ihre Arbeiten gelesen habe, drängt es mich doch dazu.
Seit dem Tod meiner Mutter Ende 1999 leide ich an “schweren Depressionen”; so die Diagnose eines Psychiaters, Konziliararzt meiner Krankenkasse, der mich zu einem Verhaltenstherapeuten überwies. Über das ganze Jahr 2004 habe ich ca. 40 Sitzungen bei diesem Therapeuten besucht, der aber nichts über meine Kindheit wissen wollte. Da mich aber diese Zeit schon vor der Lektüre Ihrer Bücher umtrieb, hatte ich eine Art Lebensgeschichte von der Kindheit an auf ca. 50 Seiten niedergelegt, Auch die wollte dieser Therapeut nicht lesen. Er berichtete mir mehrfach wie er sich mit seinem sterbenden Vater versöhnt habe – das geschah etwa zur Zeit unserer Therapie. Sein Credo: ich möge doch endlich mal aufstehen und meine Eltern hinter mir lassen. Als es mir aber immer schlechter ging und ich sogar meine Arbeit nicht mehr regelmäßig durchführen konnte, empfahl er mir eine Kur. Damit war die Therapie beendet.
Mehrere Monate lang ging es mir dann so schlecht, daß ich mich nicht mehr bei Freunden meldete, das Telephon nicht mehr beantwortete, nur noch nachts wach blieb und auch meiner Arbeit nicht mehr nachkommen konnte; da ich freiberuflich arbeite war das auch finanziell verheerend. Eine Freundin “schleppte” mich zu ihrem Hausarzt, der mir ein Antidepressivum verschrieb, das ich jetzt seit Februar 2005 nehme. Es hat mir mir allerdings nur insofern geholfen, als ich mich mühselig genug auf die Suche nach einem anderen Therapeuten machte. Einige Vorgespräche waren desillusionierend: der erste Therapeut ließ mich nach einem kurzem Gespräch wissen, er fühle sich “meinem Fall” nicht gewachsen. Ein zweiter empfahl mir Dauerläufe – er hatte eine Studie über den Erfolg von Dauerläufen und Sport bei depressiven Gefängnisinsassen mit hohen Haftstrafen geschrieben. Ein weiterer Psychoanalytiker und Neurologe sagte mir nach einigen probatorischen Sitzungen ins Gesicht, ich sei in der Kindheit steckengeblieben und spiele nur Erwachsener; außerdem sei mein Leben von Trauer und Depression so durchtränkt, daß ich nur schwer zu therapieren sei.
Inzwischen bin ich nahezu verzweifelt; ich bekomme von meinen wenigen mir verbliebenen Freunden vorgeworfen, ich müsse auch mal Vorwürfe des Therapeuten aushalten und Rückgrat zeigen – und außerdem könne ich mich ja mal langsam zusammenreißen, meine Kindheitsgeschichte könne doch nicht mein ganzes Leben bestimmen. Solche Bemerkungen lassen mich natürlich nur noch mehr resignieren – ich ziehe mich inzwischen vollkommen zurück, habe keine privaten Kontakte mehr und arbeite nur noch sporadisch; manchmal weiß ich nicht, wie ich die nächsten Wochen und Monate überstehen soll.

Zwar haben mir Ihre Bücher entscheidenen Aufschluß über mein Leben gegeben, aber ich finde niemanden, mit dem ich darüber ernsthaft sprechen kann. Meine Erkenntnisse aufgrund Ihrer Arbeiten – das sehe ich – kann ich nicht allein in Realitäten überführen. Mein Vertrauensverlust und meine Lebensangst haben sogar dazu geführt, daß ich eine Freundin verloren habe, die ich bald 30 Jahre kannte. Sie war sonst in jeder Lage für mich da,aber sie hat sich völlig aus meinem Leben zurückgezogen. Das ist außerordentlich traurig, aber es dringt schon fast nicht mehr zu mir durch – ich versuche mich total abzuschotten; den Schmerz könnte ich wohl nicht aushalten..

Ich bin vor einigen Tagen 48 Jahre alt geworden – ein furchtbares Datum, denn es wurde mir klar, daß ich in meinem Leben nichts erreicht habe. Ich habe all das realisiert, was meine Mutter mir aufgetragen hat: ich lebe von der Hand in den Mund und habe noch nie in meinem Leben eine Beziehung gehabt. Meine Mutter hat mir – da war ich bereits um 30 – gestanden, daß ihre größte Angst seit meiner Geburt gewesen sei: der Junge wird homosexuell. Deshalb habe sie mich mit Härte erzogen und ohne Zärtlichkeit. Sie bedauerte damals zwar, daß es so gewesen sei – aber, so sagte sie, ich hätte es ihr auch nicht leicht gemacht. Ich bin “natürlich” homosexuell geworden. Meine Mutter hat mich seit meinen Kindertagen deswegen extrem kontrolliert. Ich mußte ständig “ordentlche” Sachen tragen (meine erste Jeans kaufte ich mir mit 22 Jahren) und bekam sonntags immer Fliegen umgebunden. Mein Schreibtisch wurde regelmäßig “ausgeräumt”, der Inhalt auf den Zimmerboden entleert, damit ich ihn “aufräumen” konnte. Ich bin zwar kaum von meiner Mutter geschlagen worden – von meinem Vater nie – aber sie strafte gerne “mit Verachtung”; dann wurde ich tagelang angeschwiegen oder bekam zu hören “geh weg, ich mag dich nicht mehr!”.
Ich habe meiner Mutter oft Geschenke gemacht, über die sie sich auch gefreut hat. Selbst zu meinem 18 Geburtstag, also meiner Volljährigkeit, habe ich meinen Eltern etwas geschenkt, um mich bei ihnen zu bedanken. Als meine Mutter sich einmal über eines meiner Geschenke sehr freudig äußerste, habe ich leider gesag: “na, dann weiß ich ja, wie ich Dir demnächst wieder eine Freude machen kann.” – Da kriegte ich vorgeworfen, ich sei berechnend und egoistisch und brauch enie wieder mit Geschenken “ankommen”.
Wenn ich weinte, wurde ich schon vor der Schulzeit als “Memme” und “Sissy” beschimpft – ich habe dann später erfahren, daß “Sissy” ein englisches Slangwort für “Tunte” ist (meine Mutter hatte vor meiner Geburt in einem Supermarkt der englischen Streitkräfte gearbeitet, aber mußte die Stelle aufgeben als sie schwanger wurde). Als meine Mutter herausbekam, daß ich schwul bin, war ich 16 Jahre alt. Ihre erste Reaktion war: “davon macht du dir ja die ganze Verdauung kaputt” – ihre PHantasie ging über Analverkehr nicht hinaus. Mein Vater hat damals fast ein Jahr lang nicht mehr mit mir gesprochen; noch nicht einmal “Guten Tag” und “Guten Weg” bekam ich zu hören. Mir wurde alles verboten, was zu verbieten war. Ich war damals ein sehr guter Schüler und gab schon Nachhile; selbst das wurde mir verboten, weil meine Mutter fürchtete, ich könne mich an meinen jüngeren Nachhilfeschülern vergehen. Besonders perfide fand ich folgende Vorwürfe: ich hatte sehr an der Mutter meiner Mutter gehangen (also ihrer Mutter), die allerdings als ich 8 Jahre alt war, starb. Ich bekam vorgeworfen, daß ich zwar meine Großmutter sowieso mehr geliebt hätte, als meine Mutter, aber auch die wäre wohl nicht auf meiner Seite, denn die hätte Homosexuelle verachtet. Sie hatte nämlich einmal eine Nacht im Gestapokeller verbringen müssen, weil sie gesagt habe:”die SA bestünde aus lauter Schwulen”. Vor dem Gestapo-Verhör und anschließender Haft hat sie nur mein Großvater retten können, der pikanterweise selbst SA-Mitglied war.
Ein zweiter für mich schwerwiegender Vorwurf war, daß ich mit meiner Homosexualität meinen Vater so beschämt hätte, daß er eine Nacht lang geweint habe. “Und das einem Mann, der sonst nie im Leben geweint hat…!” In diese Zeit fallen auch erste literarische Schritte; das Theater meiner Heimatstadt inszenierte sogar zwei Einakter von mir. Bevor die aber aufgeführt wurden, mußte ich sie der Zensur meiner Mutter vorlegen. In einem Stück war die Rede von einem künstlichen Darmausgang. Das wollte meine Mutter geändert haben, sonst hätte sie die Aufführung nicht zugelassen. Ich mußte den “Anus praeter” in ein Holzbein umändern (sic!)
Ich bin ansonsten ein Mustersohn gewesen; es gab keine Drogenprobleme; mein erster Discobesuch war mit 22; ich rauchte nicht und habe ein Einser-Abitur absolviert. Ich war ein mustergültiger Zivildienstleistender und hatte mehrere gute Freundinnen, die bei meiner Mutter die Hoffnung erweckten, ich könne noch “umgedreht werden”. Sie hat sogar mal eine dieser Freundinnen als Heiratskandidatin aufs Korn genommen – die hat sich natürlich auf meine Seite geschlagen, aber mir jahrelang dieses Ansinnen meiner Mutter verschwiegen. Das Schlimmste an diesem Gespräch mit jener Freundin war wohl die Überlegung meiner Mutter, ob man mich nicht gemeinsam zum Psychiater zwingen können, damit ich endlich normal würde – damals war ich bereits 27.
Die ersten sieben Semester meines Studiums in Köln verliefen studienmäßig tadellos; es hagelte nur Einser. Ich hatte aber nicht einen menschlichen Kontakt in Köln, sondern studierte nur montags bis mittwochs und kehrte dann in den gesamten vier Jahren zum Wochenende immer zu meinen Eltern zurück.
Meine Mutter weinte stets, wenn ich montags früh nach Köln fuhr; sie weinte aber auch, wenn mein Vater Dienstreisen machen mußte, weswegen der größte Strapazen auf sich nahm, um nicht anderswo übernachten zu müssen wenn irgend möglich. Zu jener Zeit – also während meines Studiums – setzte meine Mutter meinen acht Jahre jüngeren Bruder unter Druck, da der auch noch immer keine Freundin hatte. Erst mit 24 ist er bei den Eltern aus- und mit seiner ersten Freundin zusammengezogen. – Übrigens habe ich auch erlebt, wie meine Mutter durchs Schlüsselloch des Badezimmer spähte, um zu erfahren, ob meiner Bruder auf der Toilette onanierte.
In jener Studienzeit veröffentlichte ich erste literarische Versuche und gewann rasch einen bedeutenden Literaturpreis. Allerdings mit einer Erzählung über Schwule im KZ Ravensbrück. Das führte zu einem fürchterlichen Eklat mit meinen Eltern – wieder sprach mein Vater mit mir monatelang kein Wort.
Ich selber war 24 und im siebten Semester, als ich mich zum ersten Mal in einen etwa gleichaltrigen Mann verliebte. Anderthalb Jahre habe ich das für mich behalten, mich nicht als ausreichend für ihn empfunden, als extrem häßlich – seit meinem 16. Lebensjahr litt ich extrem unter Haarausfall.
Ich habe damals sogar 20 Kilo abgenommen. Aber alles half nichts. Es kam noch nicht einmal zu einer zärtlichen Berührung, obwohl der junge Mann mich fast täglich besuchte und mit mir ausging etc. Als diese “Blase” platzte, brach ich mein Studium ab und kehrte in meine Heimatstadt zurück. Ich war nicht in der Lage, das Studium fortzuführen.
Damals durchlebte ich eine erste Jahre andauernde Depression. Ich brach den Konatkt zu meinen wenigen Freundinnen ab, auch zu meinen Eltern. Ich lebte auf 22 qm und hielt mich mühselig mit dem Schreiben von kleinen Zeitungsartikeln über Wasser. Nach dem Literaturpreis hatte ich einen Verlagsvertrag über ein Buch erhalten, das ich aber nicht zuende schreiben konnte. Auch eine Option von Kiepenheuer und Witsch für einen Roman ließ ich verstreichen…
Mit Anfang 30 hatte ich mich soweit erholt, daß ich durch Vermittlung einer Zeitungskollegin kleine Hörfunkbeiträge produzieren konnte. Nach und nach gewann ich Zuversicht im Medienbereich. Man attestierte mir außerordentliches Können; ich hatte aber nie genug Zutrauen zu mir selbst, mich “anzubieten” was ja in dieser Branche unumgänlich ist. So dümpelt trotz bester Chancen meine Karriere vor sich hin.
Das Erlebnis mit jenem jungen Mann wiederholte sich noch dreimal in ähnlicher Weise: immer war ich über Monate, im längsten Fall sogar wieder über ein Jahr, der beste Kollege, Freund, Zuhörer, der beste Kumpel – aber jedesmal wenn ich an meiner Liebe zu ersticken drohte und sie offenbarte, konnte das keiner der Männer verstehen. Ich nahm wieder regelmäßig ab, gab sogar im Laufe von 20 Jahren über 100.000 Mark für ausgeklügelte Haarergänzungen aus, die völlig unsichtbar waren und nicht den schäbigen Eindruck eines Haarteiles machten – oft habe ich mir das vom Munde abgespart – aber nicht einmal gab es eine Umarmung, eine Zärtlichkeit, etwas, das man Nähe nennen könnte. Jedesmal war ich so am Boden zerstört, daß es Monate dauerte, bis ich wieder in ein sensibles Gleichgewicht kam.
Auch die Trennungen von meinen Eltern liefen nicht ohne niederschmetternde Schuldgefühle ab. Alle drei Trennungen endeten mit einer ernsten Krankheit meiner Mutter – beim letzten Mal hatte sie Unterleibskrebs. Ich besuchte sie im Krankenhaus und bekam zu hören:”ich dachte ich sterbe und sehe dich nicht einmal mehr!” – Nach Auskunft ihrer behandelnden Ärzte, mit denen sie selbst nicht sprach – meine Geschwister und ich mußten das tun, auch mein Vater, weigerte sich, die Krankheit zur Kenntnis zu nehmen – war sie dem Tode gerade eben “von der Schaufel gesprungen”.
Als ich mich 1998 (bis heute hoffentlich zum letzten Male) wieder in einen Mann verliebt hatte und es wieder so erbärmlich ablief, brach ich den Kontakt zu meinen Eltern erneut ab, denn die hatten mir ja schon Jahrzehnte zuvor gesagt, ich könne mit meinem (Liebes)Leben machen, was sich wolle, aber sie wollten darüber nichts wissen. Ansonsten sei ich immer bei ihnen willkommen.
Ich war so verzeifelt, daß ich meinem “einzigen Laster” frönte, dem guten Essen und dem guten Wein. Ich habe seither fast 50 Kilo zugenommen; leide bereits seit 15 Jahren unter chronischen Darmentzündungen, Gicht, hohem Blutdruck und Herzbeschwerden. Aber immerhin war wohl meine Freie Arbeit für eine Rundfunkanstalt so wertvoll, daß ich seit 1999 eine gute Auftragslage hatte. Das brachte mich dazu, endlich von meinem Heimatort wegzuziehen – allerdings nur in eine 50 Kilometer entfernte Stadt. Daß ich wegziehen wollte, ist wohl meiner Mutter durch meine Geschwister, die immer zu mir gehalten habem, zu Ohren gekommen.
Eine Woche vor meinem Umzug verstarb sie plötzlich und unerwartet. Von ihrer Krebserkrankung hatte sie sich erstaunlicherweise bestens erholt. Sie kippte einfach vor dem Zubettgehen um; ob Herzschlag oder Schlaganfall, ist nicht ermittelt worden. – Also kehrte ich zu ihrer Beerdigung mit unglaublichen Schuldgefühlen zurück – und mußte dort erfahren, daß einigen Freunden gegenüber, die sie nach meinen Trennungsversuchen kennenlernte, sogar verschwiegen hatte, daß es mich gab.
Mein Vater ging nie auf mein Verhalten ein. Ich bemühte mich wirklich, mich ihm wieder anzunähern; aber es ist unmöglich. Ich habe immer Schuldgefühle – er erwartet von seinen Kindern, daß er “betütert” wird, wie man hier sagt. Ein Gespräch von Mensch zu Mensch ist nicht möglich. Er hat seinerzeit weder meine Theaterstücke sehen wollen, noch hat er sich je über meine Arbeiten im Hörfunk und inzwischen auch im Fernsehen geäußert. Mehrfach hat er sogar Sendungen einfach verschlafen.

Man kann ihn auch nicht um einen Rat fragen; er ist selbst lebensuntüchtig.
So hatte er sich vor dem Tod meiner Mutter z.B. nie um finanzielle Belange gekümmert – das mußte er dann ja als Witwer wohl oder übel tun und stellte fest, daß meine Mutter in den zwei Jahren von ihren Tod mehr als 20.000 DM vom gemeinsamen Konto abgehoben hat. Wohin das Geld geflossen ist, weiß mein Vater nicht. Er hat zaghaft etwas nachgeforscht und vermutet, daß meine Mutter wohl über viele Jahre Geld in unbekannte Kanäle gelenkt hat – mehrere Hunderttausend Mark. Obwohl er recht gut verdient hat, bekam er von meiner Mutter immer wieder zu hören,es sei kein Geld da, er arbeite zu wenig, man könne nicht bauen, geschweige denn einmal in Urlaub fahren. Mein Bruder berichtete mir, daß sich meine Mutter von ihm regelmäßig Geld geliehen habe, das er nicht zurückverlangte. Es gab also ein “Geheimnis” im Leben meiner Mutter – mein Vater will aber keinesfalls, daß man dem nachgeht. Übrigens weiß ich das auch nur von meiner Schwester, der er sich als einziger anvertraut hat.

Seit dem Tod meiner Mutter also verschlimmerte sich mein depressiver Dauerzustand – dazu kommt, daß ich mich nicht um meine finanziellen Belange kümmern kann. Das macht mir Angst. Aufgrund eigener Fehler und Fehler meines Steuerberaters, habe ich Schulden beim Finanzamt, ich kann mich nicht um Rentenbelange kümmern, ich gerate geradezu in körperliche Panik mit Schweißausbrüchen und Atemnot wenn es im Finanzielles geht. Es braucht drei Tage seelischer Qualen, um nur einen Kontoauszug zu holen, auf dem dann mein Versagen in ZAhlen nachzulesen ist. Es gibt zahllose verpaßte Chancen im Beruflichen, die ich gar nicht aufzählen will. Ich selbst habe wie meine Mutter panische Angst vor Krankheiten und Ärzten – meine Gicht und meine Darmentzündung machen mir zu schaffen, ich lasse mich aber nicht untersuchen, da ich schon eine Blutentnahme als Eingriff in meine körperliche Integrität empfinde. Schlaflosigkeit ist ein großes Thema – sobald ich am kommenden Tag einen beruflichen Termin habe, schlafe ich nicht. Dabei machen mir die Inhalte meiner Arbeit keine Sorgen, das mache ich mit links. Aber man erwartet von mir, kommunikativ zu sein – und das beschwert mich ungeheuer. Inzwischen gehe ich kaum vor fünf, sechs Uhr morgens zu Bett. Das Bett ist wie ein Grab. Ich schäme mich für meine Körperfülle, für meine Kahlheit, für meine Homosexualität – ich schleiche selbst an Schaufensterscheiben vorbei, damit ich mich nicht darin spiegele. Ich bin ein schmutziger alter Schwuler.
Ich habe die Schubladen voll mit Ideen und Entwürfen für literarische und filmische Projekte, die – da bin ich mir sicher – Anklang finden werden, wenn ich nur den Mut hätte, sie zu vertreten… Ich habe keine Hoffnung mehr in die Zukunft, weder privat, noch beruflich – und obwohl ich jetzt weiß, daß ich mir im Auftrag meiner Mutter ständig selbst Steine in den Weg lege, finde ich nicht die Kraft, etwas dagegen zu unternehmen.
Sie, Frau Miller, schreiben von Gefühlen, von Wut und Zorn, aber ich bin absolut tot und leer, ich kann noch nicht einmal mehr weinen. Damals, als meine erste Liebe so jämmerlich endete, habe ich zwei Selbstmordversuche gemacht – noch nicht einmal dafür finde ich die Kraft – ich höre nur, wie meine Mutter mir höhnisch wiederum “sissy” entgegenschmettert. Jedesmal wenn ich das alles bei probatorischen Gesprächen erzählt habe, wird das abgewehrt und ich komme mir immer schuldiger vor. JA, meine Mutter hatte selbst keine schöne KIndheit, ja, ich sollte, als ich nach acht kinderlosen Ehejahren endlich geboren wurde, der Erfüller all ihrer Wünsche sein, aber das ist alles so viel und zu viel. Und nachdem mir ein Analytiker sagte, ich sei wohl ganz schwer überhaupt zu therapieren, bin ich am Ende. Ich lebe nur noch von Tag zu Tag, schleiche mich durch die Zeit, komme mir vor wie ihr Verweser mit all den verpaßten, nicht ergriffenen Chanchen… Gibt es in dieser Trostlosigkeit überhaupt eine Hoffnung – oder bin ich nicht doch bloß ein “Jammerlappen” und eine “Zimperliese”?

Es tut mir leid, daß ich Sie mit all dem belästige, aber ich weiß wirklich nicht mehr, wohin ich mich wenden soll. Mein Leben steht auf der Kippe – nicht nur seelisch, durch meine Eßsucht (übrigens war meine Schwester Bulimikerin) habe ich mich auch körperlich an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Ich weiß einfach nicht mehr, ob ich noch eine Chance habe. Ich habe auch all das nur erzählt, um nicht im Numinosen zu bleiben; es sollte greifbar werden, was mich umtreibt.

W. B.

P.S. – Ich habe nichts dagegen, wenn Sie diesen Brief auf Ihrer Internetseit veröffentlichen. Das hat, sein Sie versichert, nichts mit Exibitionismus zu tun. Ich habe bisher nur noch nie von einem ähnlichen Lebenslauf auf Ihrer Seite gelesen. Ich kann doch nicht der einzige sein, der wegen seiner Homosexualität so verachtet und niedergemacht wurde. Übrigens hat mir ein Therapeut in einem Vorgespräch (immerhin der Leiter einer Klinik für Psychiatrie in einem bekannten Kurort meiner Region) gesagt, 90 Prozent der Patienten, die zu ihm kämen, wären nach der Therapie nicht mehr homosexuell. Da habe ich die Beine unter den Arm genommen” und bin gegangen…

AM: Beim Lesen Ihrer Geschichte musste ich an Franz Kafka denken und an seine “Verwandlung”. Wie soll ein hochbegabtes, intelligentes Kind sein Schicksal bewältigen, ohne schwer daran zu erkranken, neben einer schrecklich kontrollierenden und extrem dummen Mutter, neben einem Vater, der kategorisch jede Kommunikation verweigert? Die Krankheitssymptome sind doch die einzige wahre Sprache, die ihm bleibt. Aber im Gegensatz zu Kafka, der so früh sterben musste, haben Sie Ihre Geschichte auf 50 Seiten aufgeschrieben und daher werden Sie NICHT an Ihren Leiden sterben müssen, Ihr Körper wird Sie weiter dazu drängen, das Leiden Ihrer Kindheit ernst zu nehmen und dem Kind, das Sie einmal waren, zuzuhören.
Doch Sie haben recht, Sie brauchen unbedingt einen Begleiter, man kann nicht allein in die Hölle steigen, die Sie einmal überlebt haben. Wie findet man ihn? Ihre Beschreibung der Therapeutenmentalität von heute ist vermutlich sehr wahrheitsgetreu, Sie könnte Ihnen fast als Theaterstück dienen, in dem die Zuschauer ihre eigenen Erfahrungen wiederfinden würden. Aber das löst Ihr Problem nicht. Wie das Schreiben Kafkas Leben nicht retten konnte. Sie brauchen jemanden, der sich für Ihre Geschichte interessiert, weil er die eigene kennt und gerne mit Ihnen arbeiten würde. Sie können sich umschauen, die Therapeuten testen, indem Sie Ihnen Fragen stellen, die ich in meiner FAQ Liste vorschlage, oder Ihnen die 50 Seiten Ihrer Kindheitsgeschichte zum Lesen geben und DANN entscheiden, ob Sie sich diesem Mann oder dieser Frau anvertrauen wollen und können. Es kann Ihnen passieren, dass Sie leicht Schwachsinn und Ignoranz tolerieren, weil Sie so früh für diese Toleranz programmiert waren. Aber wenn Sie sich an den Reaktionen zu Ihrer Geschichte orientieren, droht Ihnen keine Gefahr. Versuchen Sie mein Buch “Die Rebellion des Körpers” zu lesen, sowie meine letzten Artikel (zB über die Schuldgefühle) und versuchen Sie die Notrufe Ihres Körpers zu verstehen, ihn nicht so zu behandeln, wie Ihre Mutter sie behandelt hat.
Wir werden Ihren Brief hier veröffentlichen, weil es viele Menschen gibt, die so wie Sie leben, aber sich nicht artikulieren können wie Sie. Sie leiden an ihrer Bindung an die misshandelnden Eltern, fühlen sich schuldig für das, was die Eltern an ihnen verbrochen haben und verbrauchen dafür den Rest ihrer Energien.
Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Therapeutensuche und viel Mut, um Ihre Fragen zu stellen. Die müssen Sie aber stellen, wenn Sie sich orientieren wollen. Und ich hoffe, dass Sie jemanden finden, der/die darauf eingehen kann. Bis Sie jemanden gefunden haben, können Sie versuchen, nachts, wenn Sie schlaflos liegen, ihrer Mutter zu erzählen, wie es Ihnen jetzt geht und was Sie heute ihr gegenüber empfinden. Aber auch, was Sie ihr als Kind hätten sagen wollen, aber aus Angst nie gewagt haben. Auch dem Vater können Sie schreiben oder einem immaginären Therapeuten, ohne all diese Briefe wegzuschicken. Die Gefühle werden sich melden, sobald Sie direkt diese Personen ansprechen. Dafür werden Sie heute nicht bestraft, Sie werden sich befreien, von einem Gefängnis, in dem Sie so lange gelebt haben und daher die Hoffnung aufs wirkliche, sinnvolle und reiche Leben, das Ihnen zusteht, fast verlieren. Aber Sie werden nicht wie Kafka sterben, weil Sie Ihren langen Brief geschrieben haben. Das ist Ihre Rettung.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet