Tausend Dank
Saturday 25 April 2009
liebe frau miller,
diese gelegenheit ihnen eine email zu schreiben – die ich erst vor kurzem
entdeckte – MUSS ich nutzen. es ist für mich eine mutprobe! obwohl ich dies
verstandesmässig nicht nachvollziehen kann, aber ich gehöre ja auch zu den
durch „erziehung“ von geburt an hirngechädigten. 1981 hatte ich schon mal
einen brief an sie geschrieben, es aber dann nicht gewagt ihn abzuschicken.
dabei hätte ich sie nicht einmal mit meinen problemen belästigt, es ging um
eine meiner töchter. ich hatte ihr buch „Das Drama des begabten Kindes“
gelesen (davor „Tatort Familie“ von A.Y. Napier +C.A. Whitaker) + darin
meine eignen probleme beschrieben gefunden. als dann meine eine tochter mit
16 jahren plötzlich gesundheitliche probleme bekam, durchblutungsstörungen
in den händen, für die die ärzte keine mir einleuchtenden erkärungn fanden,
war für mich ganz klar, dass sie den gleichen part in der schlechten ehe
ihrer eltern übernimmt, wie ich in meiner kindheit. es war ja völlig logisch
was der körper meiner tochter signalisierte: sie konnte nicht eingreifen,
die ehe ihrer eltern nicht ins lot bringen, war zur tatenlosigkeit verdammt.
obwohl ich nicht wusste, wie ich ihr helfen sollte, schickte ich den brief
an sie, frau miller, nicht ab. für meine feigheit schäme ich mich sehr. ich
war (bin?) immer noch in der kindheitssituation gefangen, dass ich kein
recht habe andere menschen mit meinen problemen zu belästigen + dass mir
sowieso niemand zuhört, mich ernst nimmt, dass ich nicht wichtig bin.
ich wollte nie kinder haben, – wie meine mutter. meine beiden töchter
(eineiige zwillinge) haben + wollen keine kinder. ich interessierte mich nie
für kinder (ganz im gegensatz zu meiner jüngeren schwester) + wollte nie
heiraten. ich liebte meinen beruf meine unabhängigkeit, wechselte jedes
jahr den arbeitgeber, häufig den ort, manchmal das land. mit 21, kurz nach
meiner volljährigkeit, war ich ins ausland „geflüchtet“. ich musste meinen
eltern eine lügengeschichte erzählen, damit sie mich gehen liessen. es
wunderte mich sehr, dass meine mutter auf dem bahnsteig, wohin mich meine
eltern begelitet hatten, tränen in den augen hatte. sehr seltsam! sie
ohrfeigte mich mein zuhauseleben lang, strafte mich tagelang mit schweigen,
sagte doch immer ich sei „der nagel zu ihrem sarg“; ich war das schwarze
schaf der familie, sie mussten doch froh sein, dass sie mich endlich
loswurden. ich kam noch einmal an weihnachten zu besuch nach hause. im jahr
darauf starb meine mutter. + wieder konnte mein verstand nicht begreifen,
dass ich fern im ausland felsenfest davon überzeugt war meine mutter
umgebracht zu haben…, ja, ich war(bin?) ver-rückt. mein vater verprügelte
mich das letzte mal mit 19 jahren + ich bekam auch den obligaten hausarrest.
das erste mal begann er damit als ich so zwischen 31/2 + vier jahren war
(das habe ich erst kürzlich herausgefunden). aber nur mich, – meine vier
jüngeren geschwister o. gar meine mutter hat er nie angerührt.
jedenfalls wurde ich mit 28 jahren schwanger. ich kann nicht erklären, warum
eine abtreibung für mich nicht in frage kam, obwohl ich sie für richtig
halte, wenn eine frau sich dafür entscheidet; ich fand es bei meinen
freundinnen völlig in ordnung + unterstützte sie auch, wenn das nötig war.
ich fühlte mich wortwörtlich wie ein gefäss mit einem kostbaren inhalt. mein
sohn ist heute ein liebe- + verständnisvoller vater seiner beiden kleinen
söhne + hat (nach einer gescheiterten, kinderlosen ersten ehe) die zu ihm
passende partnerin gefunden. sie haben die schwierigkeiten, die sie auch mal
hatten, GEMEINSAM + erfolgreich klären können mit professioneller hilfe.
leider war ich zu feige mein kind alleine aufzuziehen + heiratete den vater
meines kindes. das war ein fehler. ich lebte alleine im ausland (schweiz) +
ich traute mir einfach nicht zu, alleine fähig zu sein einem kind das geben
zu können, was es brauchte. ich wusste, dass ich selbst immer noch nicht
erwachsen war, dass ich immer noch meine miese kindheit mit mir
herumschleppte. nach 2 jahren kamen dann unsere zwillingstöchter zur welt.
ich hatte keine weiteren kinder gewollt, aber die antibabypille gab es erst
nach der geburt meiner töchter. es klingt so unglaublich, aber ich habe
damals fürchterliche ängste ausgestanden, dass ich töchter bekommen könnte,
die sich an mir rächen würden für alles was ICH meiner mutter angetan hatte.
ich konnte mit niemandem darüber reden, nur meiner freundin, die nach
amerika geheiratet hatte, schrieb ich es, nur sie konnte mich verstehen, sie
kannte meine herkunftsfamilie. nachdem die beiden mädchen dann da waren,
hatte ich oft den genau gegenteiligen gedanken, als seien sie mir zu hilfe
gekommen. ja, ver-rückt!
das beste aus dieser ehe sind unsere drei kinder. wir haben beide unsere
kinder niemals geschlagen, aber ich habe sie anfangs öfter angebrüllt, bis
mir bewusst wurde, was ich ihnen damit antat + es mir abgewöhnen konnte. für
mich war von anfang an klar, dass ich meinen kindern das ersparen würde, was
ich hatte erleben müssen. mit dem wort mutterliebe kann ich nichts anfangen.
ich empfand eine grosse zärtlichkeit für diese wehrlosen winzigen geschöpfe,
die ich beschützen musste. mein exmann überliess mir alles, aber er
unterstützte mich, wenn es mal nötig war, aber nur bei der kindererziehung.
sonst hat er geschwiegen, uns allen die kommunikation versagt, – wie meine
mutter. das war leider wieder meine dummheit, der teufelskreis drehte sich
munter weiter. erst nach 21 ehejahren gelang es mir mich daraus zu befreien
+ ich flüchtete erneut, diesmal nach vom st. galler rheintal nach zürich.
hier lebe ich nun seit 25 jahren allein. + brauchte nochmal 1o jahre um auch
innerlich loszukommen, loszulassen. da ich mir überhaupt nicht mehr traute,
liess ich mich nicht mehr auf eine beziehung ein. ich habe mit meinen
kindern immer kommuniziert, ihnen alles erklärt, ihre fragen altersgerecht
beantwortet, sie immer angehört, immer an ihre nöte ernst genommen, mit
ihnen debattiert + auch gestritten, es war oft sehr anstrengend. danke,
liebe frau miller, verstehe ichnun auch, warum meine kinder so viel klüger
waren als ich in ihrem alter, – die beiden enkel übrigens auch. das lässt
hoffen für die zukunft der menschheit.
es leuchtet mir vollkommen ein was sie über die schädigung der intelligenz
durch die „Schwarze Pädagogik“ schreiben. ich bin ja eines der besten
beispiele dafür. wie oft habe ich mich über meine dummheit gewundert. „das
darf doch nicht wahr sein! wieso tust du dir das an? wieso nimmst du auf
alle rücksicht nur nicht auf dich? wieso hast du für alle verständnis,
obwohl du ihnen gleichgültig bist? etc.“ Als ich ihr buch „Die Revolte des
Körpers“ vor zwei jahren las, fühlte ich mich NICHT! betrofffen, o dumm. ICH
hatte meine eltern ja nicht geliebt, sie sogar oft gehasst, dachte ich
damals. nachdem ich nun zu-fällig auf ihrer website gelandet war, einiges
gelesen hatte, nahm ich das buch wieder hervor, denn ich erkannte jetzt:
hass ist die kehrseite der liebe, ich war also immer noch verhängt, trotzt
der jahrzehntelangen innerlichen auseinandersetzungen mit meinen eltern. ich
hatte mich geirrt, als ich in den letzten jahren glaubte, ich sei in
sicherheit. ich hatte mir nur ein windgeschütztes plätzchen geschaffen, in
dem ich mich ungestört meinen hobbys (schreiben, malen, fotografieren +
lesen, lesen) hingeben konnte. doch damit ist es vorbei. die unerlöste
vergangenheit holte mich wieder ein. zuerst musste ich mein kleines atelier
aufgeben, dann zeigte mein körper eindringlich „seltsame“ symptome, die eben
so plötzlich auftauchten wie sie wieder verschwanden. ich habe immer die
signale meines körpers beachtet, ich war ihm dankbar dafür, denn „mein
körper ist klüger als mein kopf“, das wusste ich schon immer. nur sie zu
verstehen, dass war so schwierig. ich war nie vor meinen problemen in
krankheiten geflüchtet, denn „krankheit ist keine lösung“ war meine devise,
+ ausserdem ist es so schrecklich langweilg krank zu sein. tja, + nun fange
ich mit 74 wieder von vorne an. ich hatte nicht damit gerechnet so lange zu
überleben. ich hatte so genug gehabt von diesen inneren kämpfen, all den
seelischen schmerzen, der abgrundtiefen verzweiflung, der scheinbaren
auswegslosigkeit, ich war so müde + ausgelaugt davon gewesen, aber nun muss
ich mich nach dieser schonfrist erneut in diese schmerzen hineinwagen, die
müllhalde meines lebens erneut durchwühlen. nein, das ist nicht wahr, es ist
keine müllhalde. links von mir ist ein rieisger scherbenhaufen = mein
inneres leben, aber rechts von mir ist ein grüner garten = meine drei
kinder, die beiden enkelchen, die schwiegertochter + meine freundinnen. ich
„male“ wieder: mit der linken hand, mit pastellkreide auf einen grossen
block ohne zu kontollieren, es sind kleinkindzeichnungen.
liebe frau miller, ich bedanke mich sehr für ihre bücher. ich habe alle
gelesen, kürzlich auch „Evas Erwqachen“ nochmal + z.zt. lese ich „Dein
gerettete Leben“. durch sie weiss ich jetzt wieviel ich meinen beiden
jüngern brüdern verdanke, sie waren meine „helfenden Zeugen“. leider leben
beide nicht mehr; der eine wurde mit 15 jahren ermordet. (das letzte bild in
meiner erinnerung ist wie ich ihn tot liegen sehe, – danach NICHTS mehr,
erst viele tage? wochen? später setzt die erinnerung wieder ein.) der andere
starb mit 54 jahren (im gleichen alter + gleichem monat wie meine mutter),
ich verstehe nun mein weinen jeden abend vor dem einschlafen während
ungefähr eines jahres, auch jetzt kommen mir immer noch die tränen, wenn ich
darüber spreche o. schreibe, obwohl er doch schon 16 jahre tot ist.
Was sie für die welt, für die gesundung der menschheit getan haben ist
unermesslich! ich bemühe mich zu helfen, dass ihr wissen weiter verbreitet
wird, in dem ich ihre bücher verschenke + niemals aus meinen überzeugungen
ein hehl mache. wo es völlig sinnlos ist, da halte ich den mund, aber lügen,
nein, das habe ich mir schongeschworen, als ich von zuhause weg ging: nie
wieder lügen! denn von nun an konnte ich ohne lügen überleben. wieso kam ich
mir trotzdem lange zweit immer noch wie eine lügnerin vor? weil ich mich
selbst belogen habe?
ganz herzliche grüsse + ganz, ganz herzlichen dank, liebe frau miller +
alles, alles gute. auch vielen dank ihrem ganzen team für die arbeit an
dieser so überaus wichtigen website, deren adresse ich gerade verbreite.
NB
AM: Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren Brief. Sie schreiben: “ links von mir ist ein rieisger scherbenhaufen = mein inneres leben, aber rechts von mir ist ein grüner garten = meine drei kinder, die beiden enkelchen, die schwiegertochter + meine freundinnen.“ Dieses Bild beschreibt wohl symbolisch, was auch andere Menschen erfahren, die wie Sie ihre Wahrheit unbedingt finden wollen. Natürlich sind solche Erkenntnisse ohne Leiden nicht möglich, aber dieses Leiden ist weit entfernt von einer Depression. Sie schreiben, dass Sie keine gute Mutter waren, aber was Sie konkret schildern, sagt das Gegenteil. Es ist Ihnen gelungen, wahrhaftig zu bleiben und die alten Muster nicht weiter zu geben. Das ist eine seltene Leistung. Ich gratuliere Ihnen dazu.