Dank für Ihre Bücher

Dank für Ihre Bücher
Thursday 02 February 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
ich möchte Ihnen für Ihre Bücher danken, die mir sehr geholfen haben. Viele Jahre habe ich unter unerklärlichen Schmerzen im Unterleib gelitten und seit meiner Kindheit quälten mich viele Allergien und ein schweres Asthma, das ein Lungenemphysem zur Folge hatte. Glücklicherweise lebe ich mit einem sehr einfühlsamen Mann, der meine Krankheit und vor allem meine massiven „Krebsängste“ als eine Art „Sprache des Körpers“ verstanden hat. Aufgewachsen in der ehemaligen DDR war ich das zweite Kind (Tochter) meiner sehr strengen Mutter, die unter einer schweren Persönlichkeitsstörung leidet (narzistische Persönlichkeitsstörung). Im Alter von nur 17 Jahren hatte sie einen unehelichen Sohn zur Welt gebracht, der 5 Jahre älter war als ich. Mein Vater hat mir später erzählt, dass wenn er gewusst hätte, sie einen Sohn habe als er sie kennenlernte, er sie nie geheiratet hätte. Mein Bruder wurde von ihm sehr oft geschlagen und hat schon nach der 8 Klasse die Schule verlassen, um zu meinen Großeltern zu ziehen. Nach mir kam ein Jahr und zwei Monate, noch mein Bruder auf die Welt, den meine Mutter nicht wollte, aber mein Vater bestand auf den „Stammhalter“ und Abtreibung war 1968 noch nicht legal in der DDR. Als sie mit ihm in der Klinik war, zeigte er wohl auf das Fenster der Abteilung und meinte: „Sieh mal, da ist Deine Mama“! und ich ( 1Jahr u! nd zwei Monate) soll nur den Kopf geschüttelt haben. Als sie mit ihm nach Hause kam, hatte ich sie angeblich „vergessen“ und mich ängstlich hinter meinem Vater versteckt und mich nicht berühren lassen wollen. Mein Bruder hat mir immer sehr leid getan, er wurde nach der Geburt von meiner Mutter zu Hause „nicht angefasst“, die Pflege des Säuglings übernahm mein Vater für 14 Tage, bis sie sich daran „gewöhnt“ hatte. Das alles weiß ich natürlich nur aus den Erzählungen meines Vaters und den von mir gestellten Fragen. An viele Dinge aus meiner Kindheit erinnere ich mich noch recht gut. Meine Eltern haben uns mit einen „Ausklopfer“ auf das nackte Gesäß geschlagen, wir durften uns mit meinem Bruder immer einigen, wer als „Erster wollte“. Noch in meiner Vorschulzeit bekam ich immer die Verantwortung für meinen Bruder und wir mussten Stunden „draußen spielen“, wenn ihm etwas geschah, dann wurde ich dafür bestraft. Meine Mutter war mit Worten sehr grausam zu mir, besonders in Gegenwart anderer Menschen hat sie mich mit Worten „geschlagen“, so das gemeinhin Fremde verlegen waren und meinten, sie solle es doch nun gut sein lassen. Ich war auch an allem Schuld, war eine Plage und ihr Lieblingswort für mich war „Dreckstück“. Als Kind zeigte ich ein „unnormales“ Verhalten, war immer ernst, ängstlich, zurückgezogen und bedacht auf perfektes Benehmen. An meiner Krankheit war ich Schuld, weil das die Strafe für böse Kinder sei, ihre Ehe sei schlecht, weil ich so ein schlechtes Mädchen sei (…). Bei schulischen Untersuchungen war ich extrem leichtgewichtig und man wurde so auf mich aufmerksam, das Wort Vernachlässigung fiel, aber die Lehrer meinten immer, das Elternhaus sei „in Ordnung“. Meine Eltern wirkten nach außen sehr perfekt, leistungsorientiert und besonders „besorgt“ um mich. Ich hatte Redeverbot was die Dinge zu Hause betraf und mir wurde unter Strafandrohung Schweigen auferlegt. Mein Vater war ein Leistungssportler, der die meiste Zeit außer Haus verbrachte. Meine Mutter hat mich und meinen Bruder behandelt, wie es in dem Buch von Marie-France Hirigoyen die „Masken der Niedertracht“ beschrieben wird. In meiner Schulzeit hat sie sich als besonders „aktiv“ im Elternaktiv erwiesen und mich in höchsten Tönen gelobt. Sie hatte ein umfangreiches Sozialleben und schien immer besonders perfekt und eine gute Mutter zu sein. Niemand wusste, wie es mir und meinen Bruder wirklich in den vier Wänden erging. Heute weiß ich, das ich in der Kindheit „getötet“ werden sollte, aber „da einem die Gesellschaft nicht gestattet, das Kind körperlich zu töten, setzt man einen psychischen Mord ins Werk“ schreibt Marie-France Hirigoyen in ihrem Buch sehr treffend. Mein Wesen war für sie nicht annehmbar, meine Vater war immer auf ihrer Seite und meinte, ich sei ein schlechtes Kind gewesen.
Nach der Geburt meines Sohnes empfand ich plötzlich den Drang zu Aggressionen, die mich sehr erschreckt haben. Ich liebte ihn doch und es war furchtbar für mich, deshalb vertra! ute ich mich meinem Mann an. Er reagierte sehr ruhig und wir einigten uns darauf, dass ich ihm von all meinen Gefühlsregungen berichten würde. Ich begann Bücher darüber zu lesen und diese Impulse verschwanden nach ein paar Wochen. Durch die Hilfe und das Verständnis meines Mannes habe ich gelernt, die Welt durch die Augen meines Sohnes zu sehen. Als sehr sensibler Mensch habe ich mich auf meinen Instinkt verlassen und die Kindheit durch meinen Sohn noch einmal erlebt. Mein Mann wurde in der Kindheit selbst schwer misshandelt und deshalb waren wir besonders bedacht auf eine gewaltfreie Erziehung.
In meiner Familie stieß mein „Erziehungsstil“ auf erbitterten Widerstand, es fielen Worte wie: „ Der wird total verweichlicht“, „ Die macht alles was er will“, meinen Mann bezeichneten sie gern hinter vorgehaltener Hand als einen „Waschlappen“ weil auch er sich intensiv und liebevoll an der Pflege unseres Sohnes beteiligte. Die Kritik beschränkte sich nicht nur auf den inner-familiären Bereich, auch Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen beschwerten sich über meine „lockere“ Einstellung. Achtung und Respekt vor einem Kind zu haben und es nicht zu überfordern, sondern seiner Wesensart Rechnung zu tragen, dass trifft in der Gesellschaft und oftmals in der eigenen Familie auf erbitterten Widerstand. Es war nicht immer einfach den Angriffen und Vorwürfen im Umgang mit dem eigenem Kind unbeirrt und entschlossen entgegenzutreten. Heute ist mein Sohn 18 Jahre alt, sehr kritisch und er hat seine eigene Meinung. Dennoch ist er uns gegenüber aufgeschlossen und zeigt in schwierigen Situationen großes Vertrauen zu seinen Eltern. Es braucht keine Schläge und keine Demütigung um ein Kind auf dem Weg in sein eigenes Leben zu begleiten. Die Einheit von Wort und Tat bei den Eltern und eine konsequente auf das kindliche Verständnis abgestimmte Haltung dem Kind bestimmte (notwendige) Grenzen zu setzen und auch negative Gefühle ( alle Gefühle) den Eltern gegenüber zuzulassen und auch „straffrei“ äußern zu dürfen sind wichtig, um seine eigene Persönlichkeit voll entwickeln zu können. Ich würde mir wünschen, dass viele Eltern sich mehr in die Lage ihrer Kinder versetzen können, um ihnen einen wahrhaftigen und liebevollen „Begleitschutz“ auf dem Weg zu ihrem eigenem Leben geben zu können.
Hochachtungsvoll M L

AM: Ich gratuliere Ihnen, dass es Ihnen gelungen ist, den Folgen Ihrer schlimmen Misshandlungen zu entgehen und sie nicht auf Ihren Sohn zu übertragen. Dieses Glück haben nicht viele.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet