Uns selber die Wahrheit schenken

Uns selber die Wahrheit schenken
Wednesday 10 December 2008

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
viele Leserbriefe sprechen ja von den unfassbaren Qualen, denen wir als Kinder ausgesetzt waren, besonders
dann, wenn wir ungewollte Kinder waren.
Eine qualvolle Kindheit verlangt unserem Körper sehr viel Kraft zum Überleben ab, unser Körper hat ein
Leiden ausgedrückt in seiner ganz ureigensten Sprache, damit unsere Eltern, Verwandten, Lehrer, Freunde (…)
hinsehen und die Grausamkeit die uns täglich angetan wurde endlich wahrnehmen, uns helfen und trösten sowie
der Tatsache ins Auge blicken können, hier sind (kleine) Menschen die tagtäglich unmenschlich behandelt werden, das
Leid war so unerträglich das wir krank werden mußten, körperlich krank um eine solche schreckliche Zeit über-
haupt überleben zu können. Die wohl schmerzhafteste Tatsache wird bleiben, wir haben unerträglich leiden müssen, nun möchten wir das unser Leid anerkannt wird, von den Tätern (Eltern) die uns dieses Leid einst ohne
jedes Mitgefühl und gewissenlos angetan haben. Es ist grausam so leiden zu müssen und noch grausamer für uns
gewesen, das dieses Leiden offensichtlich „nicht existiert“ hat. Es wäre eine Art „Wiedergutmachung“ wenn das
Leid, welches für unsere Eltern doch hätte sichtbar sein müssen, als ein solches anerkannt würde! Deshalb leiden
wir auch heute noch so schrecklich und jede Begegnung mit den „Tätern“ erinnert uns daran das unser Leid für
unsere Eltern nicht existiert hat, es ist das was wir vielleicht auch früher so empfunden haben, das wir unwichtig
oder irgendwie „unsichtbar“ sind, was wir auch sagten, es wurde nie richtig „gehört“ oder „verstanden“, was wir
fühlten „abgetan“ als bloße „Einbildung“ (…).

Meine Eltern haben alle meine Äußerungen über die Vergangenheit als einen „Vorwurf“ empfunden und mich
auch für die „Wahrheit bestraft“. Ihre „Strafen“ waren für meine „geschundene Seele“ ein weiterer Schlag, ich habe ihnen für kurze Zeit „unbewußte“ Prozesse „bewußt“ gemacht (durch die Wahrheit bzw. nüchterne Tatsachen), das verdunkelte ihr Selbstbild und dieses von mir in das Bewußtsein geholte Wissen mußte dann mit viel
Mühe (ihrerseits) wieder verdrängt werden, ihre Verleugnungsmechanismen sind wichtig, um die Realität ertragen zu können. Die Wahrheit ist für meine Eltern unerträglich und jeder Versuch meinerseits sie damit
zu konfrontieren hat sie dazu veranlaßt, mich erneut „tödlich“ zu treffen, meine Seele zu erschüttern, es geht für sie buchstäblich „um das Überleben“, die Wahrheit (bzw. derjenige sie ausspricht) muß mit allen Mitteln zum Schweigen gebracht werden.

Als schwer mißhandelte (und ungewollte!) Kinder müssen wir nicht selten sogar darauf verzichten, dass unser Leid auch nur gesehen oder gar bestätigt wird. Mit Ihrer Webseite ist es aber möglich geworden, dieses Leid (einmal)
zumindest bestätigt zu bekommen, für viele die einzige Hoffnung!

Ich stelle mir meine Seele als ein verstümmeltes und mit Narben übersätes Wesen vor, dieses Wesen braucht
vielleicht Krücken um gehen zu können, wie ein Schwerverletzter, der nur knapp überlebt hat und einen erneuten
„Unfall“ nicht mehr verkraften würde.

Wir erfahren Menschlichkeit und Respekt vor unserem Leid durch Ihre Webside und wir müssen lernen, das von uns erfahrene Leid als (einen Teil!) unserer Persönlichkeit zu respektieren UND NICHT ZU VERDRÄNGEN, ODER ZU VERGESSEN, so nehmen wir uns selbst ernst und nur so nehmen wir uns SELBST WICHTIG!

Wir sind “Schwerverletzte“ und diese Tatsache sehen zu können macht uns bewußt, dass wir uns pflegen,
kennenlernen, achten, verstehen (…) lernen müssen! Das kann
für uns alle das (wohl größte) Geschenk sein, vor dem wir auch keine Angst haben müssen, der Wahrheit!

Ich schrieb diese Worte einmal im Childhood Forum und fand, dass sie auch gut auf das Weihnachtsfest passen
würden, an dem wir uns, als (ehemals) mißhandelte Kinder, mit der Wahrheit selbst beschenken und damit helfen können.

Wir müssen nicht die Wahrheit fürchten,sondern die Lüge und wir werden auch nicht mehr bestraft ,wenn wir die Wahrheit aussprechen sondern belohnt, weil wir uns selbst finden können!<
Hochachtungsvoll M.L.

AM: Ich fühle mich stark berührt durch Ihren Brief. Es ist wahr, die Wahrheit ist im Grunde das schönste Geschenk, das wir uns geben können. Es ist so tragisch, dass wir sie fürchten mussten, aber so verständlich, weil wir als Kinder oft schwer bestraft wurden, wenn wir die Wahrheit auszusprechen wagten. So mussten wir lernen, uns in der Welt der Lügen, des Verleugnens des Leidens, des Scheins zurechtzufinden. Aber es ist eine solche Erleichterung, es nicht mehr tun zu müssen und mit anderen als die kommunizieren zu können, die man ist, nicht wahr?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet