Von der Wut befreien

Von der Wut befreien
Monday 25 August 2008

Liebe Frau Miller,

ich habe viele Ihrer Bücher gelesen, zuletzt die Revolte des Körpers und
Mein gerettetes Leben. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Bücher, sie sind immer
wieder sehr hilfreich für mich. Beim Lesen Ihrer Bücher habe ich das
Empfinden, dass ich fühlen darf und dass ich richtig bin in meinen
Wahrnehmungen.

Ich bin 49 Jahre alt, wurde als Kind oft von meiner Mutter allein gelassen,
weggeben, wiedergeholt. In meinem 9.Lebensjahr liessen sich meine Eltern
scheiden, meine Mutter zog mit mir zu einem anderen Mann. Mein jüngerer
Bruder blieb bei meinem Vater. Die Trennung von meinem Vater habe ich nie
verwunden.
Im Alter von 12 Jahren wurde ich sexuell mißbraucht von einem guten Freund
meiner Mutter.

Ich hatte das Glück, im Alter von 23 und im Alter von 39 Jahren jeweils 5
Jahre in Psychotherapie zun gehen. Der Grund für diese Psychotherapien waren
jedes Mal meine starken Depressionen und Trennungen von Männern aufgrund
sexueller Schwierigkeiten und Nähe/Distanz Problematik.

Beide Psychotherapeuten arbeiteten nicht am Verzeihen – vielmehr zu schauen
wo meine Gefühle sind, meine Trauer, meine Wut. Es hat sehr lange gedauert,
bis ich überhaupt fühlen konnte. In meiner letzten Psychotherapie bis vor
fünf Jahren habe ich oft an meiner Wut gearbeitet, obwohl es sehr schwer für
mich war, auf meine Mutter wütend zu sein.

Mittlerweile bin ich zum zweiten Mal verheiratet, jetzt aber mit einem Mann,
der mich sehr gut versteht, und zu dem ich tiefstes Vertrauen habe. Mein
Bruder hat schon immer keinen Kontakt zu mir haben wollen, auch gegenüber
meiner Mutter ist er extrem distanziert. Zu meiner Mutter habe ich ein sehr
ambivalentes Gefühl – irgendwas zwischen Schuld, Mitleid, und doch auch Zorn
und Unverständnis. Ich sehe meine Mutter alle 8 Wochen – und jedes Mal fühle
ich mich mit ihr nicht wohl und halte eine Treffen nicht länger als 1 1/2
Stunden aus.

Früher habe ich mit meiner Mutter über Vieles aus meiner Kindheit gesprochen
– aber sie weinte immer sofort oder leugnete viel Dinge. Seit vielen Jahren
gibt es nur noch diesen oberflächlichen Kontakt zu meiner Mutter.

Immer wieder habe ich aufkommende Depressionen – und ich fühle eine starke
Wut in mir – mit der ich nicht weiß umzugehen. Wohin mit meiner Wut? Wie kan
ich mich von meiner Mutter befreien?

Herzlichen Dank für das Lesen meiner Frage

AM: Sie schreiben unter dem Titel: Wie kann ich mich von meiner Wut befreien. Dazu würde ich sagen: Indem Sie sie voll erlebt haben. Doch das können Sie (noch) nicht, denn Sie haben Mitleid mit ihr, so zahlen Sie dafür mit den Depressionen. Doch der letzte Satz Ihres Briefes lautet: Wie kann ich mich von meiner Mutter befreien. Ich denke, indem Sie sehen, wie sehr Ihre Wut BERECHTIGT ist und schauen, ob Sie sich von dem Mitleid befreien können, das Sie abhängig macht. Ihre Abhängigkeit erzeugt immer neue Wut.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet