Ich will nicht ohne Emotionen leben

Ich will nicht ohne Emotionen leben
Tuesday 21 August 2007

Liebe Alice Miller,

ich hatte vor kurzem schon einmal geschrieben, Sie nannten den Brief: Empörung als erster Schritt (Juni /07).

Ich arbeite an mir, schreibe alles was mich bedrückt, Erinnerungen die sich mir aufdrängen. Ich bekam bis vor kurzem enorme Kraft, die mich beflügelte.

Da ich einen anstrengen Job habe bleibt mir nur der kurze Abend und ein wenig am Morgen, in dieser Zeit, habe ich Raum für mich, den ich nie ungenutzt verstreichen ließ. Aber die Emotionen sind so heftig, sie fahren Schlitten mit mir. Ich nehme die Gedankenflut und die oft starken Emotionen mit ins Büro. Bevor ich das Institut betrete, denke ich noch „umschalten“. Aber oft klappt es nicht, meine Kollegen bekommen dann meine aggressive Stimmung ab, die mit ihnen nichts zu tun hat…Die allgemeine Arbeitsatmosphäre, sie ist nicht gerade konstruktiv, sie ist eher mißgünstig, voll Neid und es wird gerne durch Machtspielchen manipuliert…Und nun mischen sich meine privaten Emotionen mit denen meiner Kollegen. Natürlich kann ich rational trennen, aber ich kann meine Gefühle und Emotionen nicht sinnvoll im Zaum halten. Das ist so fürchterlich.

Es gab eine schreckliche Situation für mich. Ein Kollege hat wissentlich, weil er nicht zugeben konnte, daß er von meinen Meßdaten keine Ahnung hat, mir heimlich ein technisches Meßinstrument verstellt und es kostete einen anderen Kollegen einen halben vormittag den Fehler ausfindig zu machen, weil niemand vermutet hat, dass jemand die Steckverbindung vom Meßinstrument gezielt verändert hat, so daß falsche Meßergebnisse heraus kamen…Es machte mich so unendlich wütend diese so offensichtliche Manipulation und der betreffende Kollege stellte mich hin, als würde ich es getan haben. Ich war fast ohnmächtig vor Wut…Gleichzeitig empfand ich eine enorme Bedrohung und fast Lebensgefahr. Dabei spürte ich, daß es ein altbekanntes Gefühl war, etwas was ich als Kind schon gespürt und so stark empfunden hatte. Meine Wut in dieser heutigen/jetzigen Situation war berechtigt, aber wie ich damit umging und wie ich versuchte den Konflikt zu lösen, zeigte mir ganz deutlich, daß ich es noch immer aus der starken kindlichen emotionalen Abhängigkeit meines Vaters oder meiner Mutter lösen wollte und sich Ängste und Bedrohungen zeigten die ihren Ursprung in der Kindheit haben, daß meine Reaktionen nicht unbedingt besonnener waren, als die meines Kollegen…

Das macht mir Angst, ich bin stark verunsichert, fürchte mich jetzt vor meinen Gefühlen. Ich bin wie gelähmt, blockiert. Ich weiß, wenn ich therap. Begleitung hätte, wäre vieles leichter und einfacher zu klären. Aber so fühlt sich alles an wie der Tanz auf dem Drahtseil…Aber ich kann nicht mehr zurück, das Wissen hindert mich daran, meine Gedanken zu stoppen, ich werde sonst verrückt, also muß ich allein weiter gehen. Denn ich spüre auch, wenn ich mit meinen Auseinandersetzungen (den Dialogen) auf dem richtigen Weg bin, daß mein Körper sich entspannt und es gibt Augenblicke in denen sich sogar eine leichte Ahnung von Wohlbefinden einstellt. Darauf möchte ich nicht mehr verzichten.

Aber jetzt denke ich, daß die Lawine mich überollt. Es ist schrecklich und ich glaube alleine gar nichts mehr geklärt zu bekommen, weil ich immer noch versuche die Konflikte aus der kindlichen emotionalen Abhängigkeit zu lösen. Das ist mir so peinlich, ich schäme mich und das tut so weh. Mein Selbstwertgefühl ist völlig im Keller, fühle mich resigniert. Nun traue ich mich nicht mehr meine starke Wut zuzulassen, zu kämpfen das mir eigentlich gut getan hat. Ich kann meine Gefühle nicht steuern, kanalisieren, das quält mich und die Angst niemals da heraus zu kommen. Ich habe doch nicht versagt, nur weil ich noch keinen Therapeuten gefunden habe…?

Zu guter Letzt erreichte meine Mutter mich dieser Tage telefonisch. Ich gehe seit ein paar Jahren nicht mehr ans Telefon wenn ich ihre Nummer im Display lese, diesmal war sie abgeschaltet…Ich ließ mich wieder auf ein Gespräch mit ihr ein. Ich vesuchte wie ich es mein ganzes Leben getan habe, mit ihr in Kontakt zu kommen, mich ihr verständlich zu machen, sagte Dinge von denen ich genau weiß, daß sie mich dafür noch mehr ablehnen wird…Ich brauchte 2 Tage um mich halbwegs von dem Telefonat zu erholen…Meine Gewissensbisse ihr gegenüber, daß ich mich weigere sie zu besuchen, zu fragen wie es ihr geht und wage zu sagen daß ich nicht mehr mit ihr sprechen möchte, kommen immer wieder hoch. Ich suche ständig nach einer Rechtfertigung …

Ich schaffe es auch nicht, mich aus dem verlogenen Beziehungsgeflecht meiner Freunde zu befreien, mir nicht mehr ihr rumerzieherisches und überhebliches Besserwissergehabe gefallen zu lassen, mich zu wehren. Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wie ich es sagen soll. Ich fühle mich so hilflos und unbeholfen. Und wenn ich es gesagt habe, dann fangen sie nach einer Weile wieder damit an. Sie respektieren meine Gefühle nicht. Andererseits fühle ich mich oft so allein, daß ich es wie ein Wunder empfinde, wenn jemand dann doch noch mal mit mir sprechen will… Das ist so verrückt… Am liebsten möchte ich diese Beziehungen abbrechen, für immer. Es sind Menschen bei denen ich niemals ganz echt sein kann…Aber dann denke ich, es ist feige wegzulaufen, sie werden mich eh wieder erreichen. Ich möchte aus diesen filzigen Beziehungen raus. Ich möchte Grenzen ziehen ohne mich verleugnen zu müssen, Beziehungen gestalten die mir gut tun. Gleichzeitig ist auch die große Angst vor Beziehungen da, vor Menschen, vor echten Gefühlen, dann möchte ich weglaufen, Maulwurf spielen. Am liebsten bin ich allein, weil ich Gesellschaften nicht aushalte, es schnürt mir die Kehle zu.
Ich empfinde das alles jetzt besonders krass.

Ich spüre deutlicher denn je, daß ich heimatlos bin, daß ich kein inneres Zuhause habe und ich mich nirgends zu Hause fühlen kann. Ich bin nicht, nicht wirklich ich. Plötzlich schaut mich ein fremdes Gesicht an. Alle Illusionen vom Sein und von einem Halt im Leben, verbunden mit Lebensfreude sind geplatzt, wie Seifenblasen, gnadenlos.
Und nun ist sie wieder da, die immer präsente alles lähmende, beklemmende, ausweglose und erstickende Atmosphäre meiner Kindheit, die mich atmet, die in Wirklichkeit nie aufgehört hat meinen Körper zu atmen. Sie entleert meine Seele…Es ist die Atmosphäre in der ich keine echte Daseinsberechtigung habe, ich darf keine Wünsche haben, nicht lernen, nichts verstehen dürfen, nur die stille, stumpfe Anwesenheit, mein Lächeln geben mir wohlwollende Duldung.

Ich habe jetzt so große lähmende Furcht, ich werde enden wie ein Don Quichote, wie eine Verrückte die nicht sieht gegen was sie sich eigentlich wehrt…Ist es normal rückfällig zu werden? Wie geht das? Habe ich überhaupt eine Chance?

Viele Grüße und vielen Dank. b.a.

AM: Sie schreiben: „Und nun ist sie wieder da, die immer präsente alles lähmende, beklemmende, ausweglose und erstickende Atmosphäre meiner Kindheit, die mich atmet, die in Wirklichkeit nie aufgehört hat meinen Körper zu atmen. SIE ENTLEERT MEINE SEELE. Es ist die Atmosphäre in der ich keine echte Daseinsberechtigung habe, ich darf keine Wünsche haben, nicht lernen, nichts verstehen dürfen, nur die stille, stumpfe Anwesenheit, mein Lächeln geben mir wohlwollende Duldung.
Ich habe jetzt so große lähmende Furcht, ich werde enden wie ein Don Quichote, wie eine Verrückte die nicht sieht gegen was sie sich eigentlich wehrt…“

Nein, Sie werden nicht so enden, denn Sie wissen schon, wogegen Sie sich wehren, aber haben panische Angst vor diesem Wissen. Ihre Mutter ertrug Ihre Tränen nicht. So musste das kleine Mädchen seine Gefühle unterdrücken, um zu überleben. Kein Wunder, dass Sie jetzt Angst bekommen, wenn sich Ihre starken Gefühle melden. Doch gerade diese Gefühle machen Ihr Wesen aus, Ihr Leben, Ihren Reichtum, Ihre Kreativität. Niemand kann sie Ihnen heute verbieten, außer Sie selbst, wenn Sie Ihre Mutter imitieren. Ihre Mutter unterdrückte Ihre Gefühle, und das ist wie ein Seelenmord. Zum Glück ist ihr dieser Mord nicht gelungen, Ihr Leben meldet sich. Sie werden Ihre Angst überstehen, weil Sie HEUTE stärker sind als diese Angst.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet