Die Ursache des Leidens

Die Ursache des Leidens
Tuesday 15 September 2009

Sie ängstigt dich zu Tode und läßt dich dann allein mit deiner eigenen Angst. Sie ist das Ungeheuer, und du, das Kind, kann das nicht erkennen, dass sie es ist, und ihre Geschichten und ihre Handlungen und Unterlassungen ungeheuerlich sind. Weil niemand da ist, der sie mit dir sieht und hört, was sie dir sagt und wie sie dich erschreckt und ganz allein in einem Zimmer lässt. Weil niemand da ist, der dich mit ihr und ihrem Einwirken wahrnimmt. Der das Ungeheuerliche als solches sieht und auch benennt und sich empört und bei dir bleibt in deiner höchsten Not. Und wenn du weinst und deine Tränen mit der Wut sich mischen. Und niemand ist je da gewesen, dabeigewesen, wenn sie dich ängstigte mit ihren Worten, Taten und ihrem Lächeln dann. Sie wendet ihren Blick, geht weg und läßt dich verängstigt in größter Not zurück. Das Kind wütet in sich weiter, in dir und gegen alle Worte, und du findest keinen Ausweg für die Wut. Deine Wut selbst findet keinen Ausweg, weil dein Gegenüber fehlt. Die Ursache deiner Wut und deine Traurigkeit über dein Verfehlen macht sich breit. Verzweiflung hat dein Tun ergriffen, denn sinnlos ist dein Wehren und dein Schlagen, in dir nach allen Richtungen. Du findest keinen Anhaltspunkt, kein Gegner ist für dich, das Kind erkennbar. Das sind doch nur Geschichten und Worte, sagen später alle Leute, das sind doch nur Geschichten. Und du vergisst die Urheberin, die deine Wut und deine Angst mit ihren Worten und ihrem Verhalten ausgelöst hat.Das Kind ist nicht die Ursache seiner Angst vor allem Möglichen, Das hätten alle die, die wegschauen und die die Täter sind, sehr gern. Du hast dich nicht sinnlos erschreckt. Du bist von ihr zu Tode erschreckt worden und dann alleingelassen worden. Dass sie selbst das Ungeheuer ist. So wird die blinde Wut auch in dir geboren, die gegen alles wütet und gegen jeden wettert. Das Kind richtet seine Wut ziellos jetzt gegen alles, weil es nicht erkennen kann, dass es die Mutter selbst ist, die es fortwährend ängstigt. Das Kind glaubt den Worten, muss ihnen glauben schenken, alleingelassen immer dort wo sie es will, wenn sie nach ihren Worten ihren Blick von dir abwendet und dich alleine läßt. Ihr Blick, der sich von dir und deinem Leid abwendet, der läßt dich stets allein zurück. Sie läßt dich mit dir selbst und deinem Schmerz allein. Da ist die größte Einsamkeit, der Moment, wenn du weinen anfängst, sie dich sieht und sich und ihre Augen abwendet. In diesem abgewendeten Augenblick verläßt dich dein Herz und Stille ist. Sie redet von den Toten und den Sterbenden und wendet sich dann ab. Sie redet von den Kranken und den Unglücklichen und wendet sich dann ab. Sie erklärt dir nichts und läßt dich stumm zurück. Verstummt, in Angst und ohne eine Möglichkeit der Gegenwehr…
Dieser abgewendete Blick ist für mich immer der schrecklichste gewesen. Dass sich jemand, wenn ich nur versucht habe, etwas von meiner Kindheit zu erzählen, abgewendet hat. Sie haben vollkommen Recht, wir fühlen uns als Leprakranke, weil man uns als solche auch behandelt. Als wäre das Reden über den Mißbrauch von Kindern etwas anrüchiges, als würde plötzlich jemand sagen: “Schämen sie sich. So redet man nicht! Das ist zu hoffnungslos. Gibt es denn nichts gutes. Ist denn alles Schlecht.Freu dich doch!”
Dieser abgewendete Blick widerfuhr mir auch, wenn ich mich freute.HR

AM: Sie schreiben “Das Kind ist nicht die Ursache der Angst von allem Möglichen”. Der Satz ist eigentlich selbstverständlich, doch es scheint mir, dass alle therapeutischen und pädagogischen Bemühungen gerade diesen Satz leugnen. Sie wollen das Kind oder den späteren Patienten reparieren und verschweigen die WAHREN Ursachen seiner Not. Dieses Wegschauen ist allgegenwärtig, als ob ein Abkommen darüber bestünde, dass man nicht wissen darf, wer das Leiden verursacht. “Es ist doch nicht so schlimm” entzieht dem Kind schon die Orientierung, es sucht sie vergeblich und “findet” sie in der angeblichen eigenen Schuld, denn der wahre Grund seines Leidens, seiner Wut und der Frustration wird ihm streitig gemacht..

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet