Die Schwierigkeit der Selbstbefreiung
Sunday 13 January 2008
Liebe Alice Miller, liebes Team,
ich danke Ihnen für Ihre rasche Antwort auf meine vorangegangene eMail.
Es gibt im Grunde sehr Vieles, das ich Ihnen gerne schreiben würde, wofür eine einzige eMail kaum ausreicht. Es ist vielleicht zunächst einmal notwendig,Ihnen zu erklären, weshalb es mich eigentlich eine solche Überwindung gekostet hat, mich erstmalig an Sie zu wenden, denn meine Lektüre des “Dramas des begabten Kindes” liegt nunmehr etwa sechs Jahre zurück. Es ist schlicht so gewesen, dass mich dieses Buch furchtbar schockiert hat. Das, was Sie im Drama des begabten Kindes beschrieben haben, war genau ich; auch die (ich erinnere mich nicht mehr an die genaue Zahl) ungefähr zwölf Kriterien, die die sog. “narzisstische Störung” ausmachen, trafen alle auf mich zu – einschließlich meiner Erinnerung an sehr differenziert erlebte Naturerlebnisse in der Vergangenheit. Es ist – alleine durch meinen Umgang mit Sprache- geradezu unübersehbar und unableugbar, dass ich mich mit Intellektualisierungen schütze.
Ihr Buch hat so einen starken Widerhall in mir ausgelöst, dass ich furchtbare Angst vor Ihnen bekam – damals war ich 22 Jahre alt. Ich fürchtete mich geradezu zu Tode, ich empfand Sie als ungeheuer fordernd,gebieterisch,autoritär, verachtend,boshaft, keine meiner Handlungen war mehr gestattet; alles, was ich tat und begehrte, war von Schuld und Scham begleitet – und das in einer sehr starken Intensität. In einer solchen Intensität, dass ich starke körperliche Schmerzen erlitt, die -in deutlich schwächerer Form- bis heute fortdauern. Das, was geschehen ist, kann man wohl am besten so beschreiben: Ich habe in Sie meine Eltern abgespalten, mit all den Vernichtungs- und Schuldängsten, wenn ich nicht wie ein Roboter im Sinne der Forderungen funktionierte.
Allein – Sie sind weder meine Mutter,noch mein Vater, und im Unterschied zu meinen Eltern, die sich in ihrer eigenen Wahrnehmung als noch viel zu gute Eltern gefallen und Schuld allein mir zuweisen,sind Sie doch gerade jene gewesen, die die Eltern anklagt. Ungeachtet dieser schrecklichen Störung habe ich weiter mit meinem hohen Anspruch an Grandiosität in meinem Studium der Ökonomie weitergearbeitet, und -in der Tat- auch dieses Ziel bis kurz vor dem Abschluss meiner Studien erreicht, bis ich irgendwann wirklich nicht mehr konnte. Dies war im vergangenen Jahr. Diese Angst hat mich überall begleitet, ich habe die Misshandlungen, die meine Professoren und Kommilitonen erlitten haben mussten, gesehen, und da ich wusste, dass geistige Begabung ihre Wurzel regelmäßig in einer schlechten Kindheit hat, begriff ich die Universität und das gesamte Universitätsstudium als eine Art pathologischen Komplex. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, deutlich genug zu machen, was ich empfand; es war so, dass ich das Gefühl hatte, wie ein Verbrecher zu sein, wenn ich mich als “normal” begriffe, weil ich und andere über geistige Begabungen verfügten; es war ein ungeheuer quälendes Gefühl, und es ist sehr schwierig zu beschreiben, was genau ich empfand. Vielleicht könnte man es einfacher so formulieren: Irgendetwas stimmt nicht in der Welt und in der Gesellschaft und auch mit dir nicht, Alice Miller hat es geschrieben, ich habe es gesehen…und nun beteilige ich mich irgendwie auch noch daran. Und indem ich mich beteilige, billige ich es. Möglicherweise ist dieses Denken psychotisch gewesen,ich weiß es nicht. Ich habe mich einfach permanent gefragt: Wie könnte Alice Miller dieses oder jenes Verhalten (sei es im Handeln, im Denken oder im Fühlen)nun werten? Es erinnert ein wenig an die Worte Herrmann Hesses, die Sie im Drama erwähnt haben; Hesse hat -sinngemäß geschrieben- dass er ein Schuldgefühl erlitt, bei allem, was er tat. Und dieses Gefühl konnte ja nur auf die Eltern, die sein Selbst getötet hatten, zurückgehen.
Dies war aber nicht das einzige gewesen, dass mich beunruhigt hatte. Zuvor hatte ich einen Psychoanalytiker aufgesucht, welcher -so sehe ich es- ziemlich sicher eine jener Gestalten war, die nicht nur in sich selbst ihre Eltern schützen, sondern auch im Patienten. Überdies hatte ich wohl den Fehler gemacht, ihm zu verraten, dass ich homosexuell bin. Ein Homosexueller war zu jener Zeit für einen Analytiker per se pathologisch, er leidet unter einer intrapsychischen “Angst vor der Abhängigkeit” – er ist also beziehungsunfähig und dergleichen mehr. Es war für mich eine schlimme Erfahrung, in einer Gesellschaft, die -jedenfalls zu jener Zeit- noch immer sehr homophob und heterosexistisch war, sogar in einer psychiatrischen Praxis diese Diskriminierung erfahren musste -von jemandem, dem ich mich anvertrauen wollte, demgegenüber ich ganz gerne losgeworden wäre, wie meine Eltern denn tatsächlich waren.
Aber als ich einmal einen Satz mit den Worten einleitete: “Es gibt in der Tat Menschen, die sehr merkwürdig sind…” fuhr er mich an mit den Worten “Niemand ist merkwürdig!” und “wir alle” hätten unsere Macken. Nun, wenn niemand merkwürdig ist, braucht man wohl nicht darauf hoffen,dass ein solcher Mensch sich von seinem verinnerlichten “Du-sollst-nicht-merken” freigemacht hat. Vor allem Heterosexuelle schienen für ihn nicht merkwürdig zu sein. Heterosexuelle identifzieren sich eben, über Fußball, oder über Bier…vor meinem geistigen Auge sah ich eine Horde Fußballhooligans in reichlich alkoholisiertem Zustand randalieren und fragte mich, ob die jetzt nun auch qua Definition neuerdings zu den Gesunden gehörten. Man kann nur vermuten, was diesen Mann in seinem Innersten umtrieb. Vielleicht waren es die merkwürdigen Theorien der Psychoanalyse, die unter anderem noch heute in dem Ödipuskonflikt ihren Ausdruck finden. Ich zitiere dazu eine Stelle aus der deutschen Wikipedia zum Ödipuskonflikt bzw. zu dessen “Überwindung” nach Freud:
“Das Mittel, mit dem dieser notwendige Schritt in der Entwicklung des Kindes – die Überwindung des Ödipuskonflikts – erfolgt, ist nach Freud die Kastrationsdrohung. Das Kind hat Angst, für seinen Wunsch und sein Aufbegehren gegenüber dem Vater mit der Kastration, dem Verlust seines Geschlechtsorgans, bestraft zu werden. Um dieser Drohung aus dem Weg zu gehen, ordnet es sich letztlich der Autorität des Vaters unter und akzeptiert die Unerreichbarkeit der Mutter. Indem es dadurch zugleich die wohlwollende Anerkennung des Vaters erfährt, gewinnt es dadurch jedoch letztlich eben jene Macht und Potenz, die es scheinbar abgegeben hat.”
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich finde diese Theorie ganz einfach unmöglich. Hier ist von “Notwendigkeit” der Angst des Kindes die Rede. Dann ordnet sich das Kind dem Vater -aus Angst- unter und erfährt dadurch seine geistig-seelische Vervollkomnung?? Eine Identifkation mit dem Aggressor führt also in die seelische Gesundheit, ja, gewährt gar noch Autorität, Macht und Potenz. Es sind diese Theorien,die einen Leidenden noch zusätzlich krank machen, ebenso, wie das übrige Vokabular der Psychoanalyse: Da ist von “narzisstischen Kränkungen” die Rede, von “als schlecht erlebten” oder “erfahrenen” Eltern – eine Art klinisch steriles Vokabular, um nicht nur ein Wort des Zornes und der Wut auf die Eltern verlieren zu müssen.
Ich persönlich habe den Eindruck, Freud schuf die Theorie des Ödipuskonfliktes allein, um vor sich selbst zu legitimieren oder zu verschleiern, dass er von seinem Vater sehr schwer misshandelt worden war. So wird ja gar eine “Notwendigkeit” aus der Misshandlung, um den Willen des kleinen Freud zu brechen.
Ich glaube nicht an die Existenz eines Ödipuskonfliktes. Ich glaube, ein heranwachsender Junge bedarf sowohl der Liebe seiner Mutter und seines Vaters, und für seine Entwicklung zu einem gesunden und sozialen Wesen ist weder eine Kastrationsdrohung, noch das Setzen irgendwelcher Grenzen notwendig. Es ist auch nicht notwendig, in jemandem, der sich für eine homoerotische Lebensweise entscheidet, einen Menschen zu erblicken, der in der ödipalen Entwicklung irgendwie stecken geblieben sei.Ein gesund entwickelter Mensch ist einfach nur LIEBESFÄHIG; dabei spielt es keine Rolle, ob er sich nun für eine Frau, für einen Mann, oder vielleicht gar für eine Frau UND einen Mann entscheidet.
Ich persönlich kann heute nicht mehr sagen, was ich nun bin, ich lebe schon seit sehr langer Zeit sozusagen anhedonisch. Ich habe irgendwie die Fähigkeit eingebüßt, meine eigene Geschichte kohärent zu sehen und zu fühlen. Sehr oft sind Empfindungen von Leere vorhanden, oft Verspannungen, insbesondere im Bereich des Kiefergelenkes, manchmal tiefe depressive Verstimmungen, weil ich irgendwie mühsam versuche, mich an den dünnen Faden des “Gesehenhabens” zu klammern, es aber sehr schwer fällt. Zum einen, da das “Du-sollst-nicht-merken” eine allgegenwärtige Forderung, insbesondere in der deutschen Gesellschaft ist, zum anderen, da es mich selbst mit seelischem Schmerz erfüllt, zu begreifen, dass meine Eltern mich wahrhaftig immer abgelehnt haben, sadistisch waren…und es, außer Ihnen, niemanden sonst gibt, der das verstehen kann.Als ich in der psychiatrischen Klinik ihren Namen erwähnte, schickte die Ärztin einen Stoßseufzer zum Himmel, geradeso, als hätte ich den Beginn der Apokalypse verkündet; man hält Ihre Positionen für “einseitig”. Ich frage mich wirklich, welche andere Seite es noch zu sehen gäbe. Es hilft mir aber überhaupt gar nicht, spitzfindig irgendwelche guten Seiten an meinen Eltern auszumachen, ganz gleich, ob man mich dann für einen Borderliner hält oder nicht. Genauso wenig kann ich verstehen, wie Arno Gruen, der Ihre Positionen zumindest im Großen und Ganzen teilt, schreiben kann:
“Der Patient ändert sich erst, wenn er selbst die Verantwortung dafür übernimmt, daß er sich einmal dafür entschieden hat, sich der Macht zu unterwerfen. Denn genau diese Unterwerfung ist es, die sein autonomes Potential hat verkrüppeln lassen und die seine seelischen Deformationen bewirkte. Das ist auch meine Kritik an Alice Millers Sichtweise, obwohl ich ihr Werk für wichtig und bedeutsam halte. Sie argumentiert, als ob das Verständnis für die determinierenden Einflüsse bereits die Heilung bewirke. Tatsächlich führt das aber nur dazu, daß sich der Patient wollüstig im Spiegel des therapeutischen Verständnisses sonnt, ohne sich ändern zu müssen”. Der Wahnsinn der Normalität, dtv, 12. Auflage März 2003, S.19
Der Patient hat sich selbst entschieden, sich der Macht zu unterwerfen? Entweder interpretiere ich Arno Gruen falsch, oder will er wahrhaftig behaupten, dass ein drei-, vierjähriges Kind die Wahl hat, sich der Macht zu unterwerfen oder nicht? Ein Kind hat diese Wahl nicht. Und ich glaube durchaus nicht, dass irgendjemand sich “wollüstig” im Spiegel des therapeutischen Verständnisses sonnt, zumal Arno Gruen die Antwort schuldig bleibt, wo man – nicht nur in Deutschland- überhaupt auf therapeutisches Verständnis trifft.
Ich glaube, dass ich – mit der Suche nach meiner Befreiung – weitgehend alleine bin, so, wie Sie es damals waren. Aber es ist schwer, zumal es viele Symptome gibt, die ich hier im Einzelnen nicht alle aufzählen kann, und für die mir auch teilweise die Begriffe fehlen,die einem schlicht den Geist vernebeln (Gedankenleere, Gedankenabreißen, Unruhe, Agitiertheit u.dgl.). Es ist auch so, dass die Forderungen, die ich weiter oben im Text aufgestellt habe,sehr selten auf Verständnis stoßen -ich weiß nicht einmal, ob überhaupt Sie meine Meinung teilen, dass der Wunsch nach gleichgeschlechtlicher Liebe dem Wunsch nach gegengeschlechtlicher Liebe gleichrangig ist. Ich glaube, dass -in dem Ausmaß, in dem Homosexuelle insbesondere in Deutschland verfolgt wurden- zum Ausdruck kommt, in welch hohem Maße die Bevölkerung in ihren Wünschen nach auch gleichgeschlechtlicher Zuwendung beeinträchtigt ist, und wenn diese Wünsche auch nur in dem Bedürfnis nach gegenseitiger Umarmung, Verständnis, Wärme, Nähe bestehen, weil die Furcht vor der gesellschaftlichen Ächtung noch immer sehr groß ist.
Vor allem ist in mir noch immerzu die Angst: Was geschieht dann mit mir, wenn ich erst wirklich anfange zu sehen? Im Grunde denkt man sehr oft, dass es eigentlich ohnehin nicht mehr schlimmer kommen kann, und doch ist die Angst da. Vielleicht ist es auch die Angst vor dem hier:
„Wir sind so ‚gesund‘, daß, würden wir uns selbst auf der Straße begegnen, wir uns nicht erkennen würden, weil uns ein Selbst gegenübersteht, das uns Angst macht.“ – Der Fremde in uns, S. 183
Mit Dank vorab für Ihre Antwort, C. S.
AM: Wenn Sie mich sogar nach der Lektüre des Dramas als so gefährlich und ablehnend erlebt haben, kann ich mir vorstellen, wie schrecklich Sie als Kind behandelt wurden. Doch Sie schreiben nichts darüber, daher weiss ich eigentlich nicht, wie ich Ihnen helfen kann.