Die massive Revolte des Körpers

Die massive Revolte des Körpers
Friday 01 June 2007

Sehr geehrte Frau Miller,
leider ist mein englisch nicht so gut das ich meine Gefühle in dieser Sprache so niederschreiben könnte wie es mir ein Anliegen ist. Zunächst möchte ich Ihnen aus tiefstem Herzen für Ihr Buch “Die Revolte des Körpers” danken. Ich habe bereits vor einigen Jahren ihre Bücher “Du sollst nicht merken” und “Am Anfang war Erziehung” gelesen. Beide Bücher haben mir ein Stück Heimat gegeben. Doch nun da ich “Die Revolte des Körpers” gelesen habe hat diese Heimat auch einen Namen erhalten. Einen Namen in meiner Seelenlandschaft, der da heißt ” Ich muss nicht verzeihen”.
Ich leide bereits seit einigen Jahren an Fibromyalgie und erlebe somit eine Revolte meines Körpers tagtäglich. Es gibt kaum einen Tag an dem ich keine Schmerzen habe,an dem mein Herz aus dem Rhythmus kommt, mein Darm sich verkrampft und mein Tagesbeginn mit Erbrechen anfängt. Ich habe von jeher nicht zu den an Fibromyalgieerkrankten gehört die eine Beteiligung der Psyche kategorisch ablehnen. Dafür ist mein Liste von zahlreicher Psychotherapien, stationär als auch ambulant eh viel zu lang. Bis auf einen Therapeuten haben mir alle gesagt wenn ich gesund werden will, dann muss ich vergeben, ansonsten würde ich keine Ruhe finden. Alle diese Therapeuten, Freunde und und… haben damit nur eines bewirkt, nämlich das sich aus meinem Unterbewusstsein eine Stimme meldete die innerlich gequält und gepeinigt schrie: ” das will und kann ich nicht”.
Ich finde keine Antwort darauf warum ich einer Mutter verzeihen soll die mich mit 2 Jahren mit einem Kugelschreiber sexuell missbrauchte, mich später stundenlang in einen dunklen feuchten Keller einschloss, mich dort bespuckt, getreten,geschlagen und mit den Worten ” Hure” bezeichnet hat. Warum soll ich einer Mutter verzeihen, die mich nachdem sie mir das Opfermuster einbrannte, nicht vor weiteren sexuellen Missbräuchen vier weiterer Täter schützte, sondern mir auch noch die Schuld dafür anlastete. Warum soll ich einer Mutter verzeihen, die als ich mit 38kg an den Folgen meiner Magersucht fast gestorben wäre, auf die Bitte meiner damaligen Therapeutin zu einem Gespräch zu kommen zwei Tage später mit 52 Jahren in eine Demenz geflüchtet ist. Für manch einen mag diese letzte Anschuldigung hart klingen, aber für mich bedeutet ihr Abtauchen das sie sich wieder einmal aus der Verantwortung gezogen hat. Mittlerweile ist meine Mutter 72, lebt in einem Altenheim und treibt doch ihre Erpressungsversuche indem sie sich hinfallen lässt wenn ihr etwas nicht gefällt, weiter. Ich selber habe sie Zuhause über Jahre versorgt, bis ich mit Zwangsgedanken in eine Psychiatrie kam, weil mein Unterbewusstsein schon längst gemerkt hatte, das ich ihre Demütigungen, welche selbst in ihrer Verwirrtheit kein Ende hatten, nicht mehr ertragen konnte. Nur mein Verstand war programmiert von dem gesellschaftlichen Denken, das eine gute Tochter einer kranken Mutter hilft. Und schon gar, wenn sie selber Krankenschwester und später sogar Pflegedienstleiterin ist. Mein Inneres wollte dieser Frau, die nie eine Mutter war, nicht mehr helfen, aber weil ich mich gezwungen fühlte warf mir meine Psyche Zwangsgedanken heraus in denen ich selber Täter war und mich als den schlechtesten Menschen der Welt ansah.Dies alles liegt bereits mehr als 15 Jahre zurück und in mein Leben kehrte erst zu dem Zeitpunkt etwas Ruhe ein als ich Stück für Stück immer mehr km zwischen meinem Elternhaus und meinem Wohnort aufbaute. Doch gesunden kann ich dennoch noch nicht wirklich, obwohl es mir heute um einiges besser geht, weil die Stimme der Gesellschaft, wohl programmiert durch das vierte Gebot, ständig bei mir anklopft und will das ich verzeihe. Doch alles in mir schreit unaufhörlich “Nein”. Erst seitdem ich ihr Buch gelesen habe, fühle ich mich verstanden und weiß das mein “nein” sein darf. Ich bin heute 44 Jahre und habe schon viel an mir gearbeitet und ich weiß das ich noch einen langen Weg der Heilung vor mir habe. Doch durch Sie weiß ich das der Weg nicht
” Verzeihen müssen” heißt. Und dies lässt mich diesen Weg leichter voranschreiten. Dafür kann ich Ihnen nicht genug danken.

Mit freundlichen Grüßen, B. K.

AM: Ich denke, dass die Fibromyalgie zu den Krankheiten gehört, die auf ganz massive Art die einst erlittenen, aber verleugneten seelischen Schmerzen zum Ausdruck bringen. Zum Glück können Sie als Erwachsene diese Sprache des Körpers schon verstehen. Doch das Kind, das so grausam gefoltert wurde und das immer noch in Ihnen lebt, zittert vermutlich immer noch vor Angst vor Ihrer schrecklichen Mutter und erlaubt sich nicht, empört über diese Folter zu sein. Wenn es Ihnen gelingt, diese Empörung zu spüren und dem Kind bei seiner Angst beizustehen, wird die Krankheit Sie verlassen, Sie schützt ja nur Ihre Mutter vor Ihrer Wut und Empörung über so viel Grausamkeit. Und Ihre angeblichen Helfer taten das gleiche, sie verbündeten sich mit der Mutter gegen das Kind. Dieser Mutter zu verzeihen würde bedeuten JA zu Ihrer Krankheit zu sagen. Ich hoffe, dass Sie ein deutliches NEIN sagen können, indem Sie Ihrer Wahrheit nicht mehr ausweichen müssen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet