Wie dem verletzten Kind in sich schreiben?

Wie dem verletzten Kind in sich schreiben?
Sunday 22 April 2007

Liebe Frau Miller,

ich möchte Ihnen für Ihre andauernde Arbeit herzlich danken. Ihre Internetseite und Ihre Texte, vor allem “Die Revolte des Körpers”, habe ich seit dem letzten Jahr als wirkliche Unterstützung erfahren. Davor habe ich mich – einmal wieder – in einer längeren depressiven Phase gefangen gefühlt. Aus Ihren Texten las ich Unterstützung dafür, meiner Mutter nichts schuldig zu sein, nach einer Kindheit, die mich emotional schwer verletzt und immer wieder wie betäubt zurückgelassen hat. Ich bin jetzt auf der Suche nach einem Therapeuten und versuche außerdem, mit dem kleinen Kind in mir in Kontakt zu treten, indem ich ihm schreibe. Das habe ich einem Ratschlag entnommen, den Sie in einer Ihrer letzten Antworten gegeben haben. Ich würde Ihnen gerne noch Fragen dazu stellen: Haben Sie Erfahrungswerte, wie ma dem verletzten Kind, das man einmal war, am besten schreiben sollte? Sollte man dem kleinen Kind in sich jeden Tag schreiben? Oder jedenfalls regelmäßig? Zu einer bestimmten Zeit? Dabei an sich in einem bestimmten Alter denken? Oder sollte man das alles seinem Gefühl überlassen? Kann man ihm Fragen stellen? Oder sollte man ihm vor allem Liebe vermitteln? Wenn ich diese Fragen stelle, komme ich mir auch ein bißchen doof vor, als müsste ich das sowieso wissen statt so blöd und technisch zu fragen. Dieses Gefühl wiederum: blöd zu sein, “ein bißchen dötschig”, kenne ich aus meiner Kindheit, weil meine Mutter das immer gesagt hat. Ich würde mich über eine Antwort freuen. Danke & herzliche Grüße, M.

AM: Zu diesem Entschluss möchte ich Sie beglückwünschen. Vor allem sollten Sie sich keinen Zwang antun. Es gibt gar keine Regeln dafür, nur SIE bestimmen, wann und wie Sie schreiben. Natürlich dürfen Sie Fragen stellen und werden sicher auch Antworten bekommen. Machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen damit und, wenn Sie wollen, können Sie uns hier berichten, wie es Ihnen dabei ergangen ist. Es mag sein, dass Sie in einer Woche viel schreiben und dann wieder gar nichts, niemand zwingt Sie dazu, regelmäßig zu schreiben. Dann besteht nämlich die Gefahr, dass Sie nicht spontan aus Ihren Gefühlen schreiben, sondern wie Schulaufgaben machen wollen und Ihnen “nichts in den Sinn kommt”. Weil man so mit einem verletzten Kind nicht kommunizieren kann. Wenn Sie sich deprimiert fühlen, können Sie das Kind fragen, was es Ihnen gerade mitteilen will, welche Gefühle es nicht zu haben wagt. Sie werden sicher viel dabei entdecken.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet