MS aber ich finde keinen Grund in meiner Kindheit

MS aber ich finde keinen Grund in meiner Kindheit
Thursday 03 April 2008

Liebe Alice Miller,

ich habe gerade Ihr Buch “Revolte des Körpers” gelesen und bin seitdem am Grübeln.

Ich habe seit 4 Jahren MS und empfinde das als eine sehr harte Revolte. Zumal die Schübe – zumindest in der Vergangenheit – gehäuft und heftig aufgetreten sind.
Nun bin ich schon seit Beginn meiner Krankengeschichte der Überzeugung, dass mir mein Körper etwas damit sagen will und diese Krankheit nicht willkürlich über mich kam. Nur was will sie mir sagen?

Beim Lesen Ihres Buches habe ich immer wieder gedacht: “Das betrifft mich ja nicht. Ich wurde ja nicht geschlagen oder sexuell misshandelt. Meine Eltern haben mich nur nicht gesehen. ” das ist doch nichts im Vergleich zu Schlägen oder Missbrauch. jedenfalls nicht so schlimm, dass man diese schwere Krankheit erklären könnte.

Mit meiner Mutter habe ich über das “nicht gesehen werden” geredet. Von ihr habe ich ja auch das Buch bekommen. Sie ist für mich ein wissender Zeuge. Sie hat damals nur meinen Vater gesehen und um seine Aufmerksamkeit gekämpft. Das sagt sie auch und will das nicht entschuldigen. Und sie hat sich auch entschuldigt dafür, dass sie noch bis vor kurzem immer zu mir gesagt hat, ich müsse meinen Vater verstehen, er hat ja auch eine Geschichte und eine Kindheit, die seine Gefühlskälte erklären. Heute weiß sie, dass das 4. Gebot (Vergebung und Verständnis für ihn) niemandem helfen.

Um die Aufmerksamkeit meiner Eltern habe ich damals gebuhlt und als dann mein Bruder kam, habe ich mich mehr und mehr zurückgezogen und mir meine eigene Welt geschaffen, zu der nur mein Hund Zugang hatte.

Aber das alleine reicht doch nicht für eine so schlimme Revolte??? Und es klingt so selbstmitleidig…

Gut, Fakt ist: ich versuche bis heute die Aufmerksamkeit und vor allen Dingen die Anerkennung meines Vaters zu bekommen. Spätestens seit der Trennung meiner Eltern (ich war 12) und der Gründung seiner neuen Familie (ich war 15) habe ich keine Chance mehr.

Der Witz ist, ich bekomme dann doch seine 100% Aufmerksamkeit, bei jedem neuen Schub! Nur ich will das nicht mehr! Ich bin 34 Jahre alt, ich brauche seine Aufmerksamkeit, sein good will, seine Segen oder seine gute Stimmung nicht mehr!!!! Und doch bin ich verwirrt und am Ende, wenn er schlecht auf mich zu sprechen ist.

Mein Vater ist und war sehr autoritär und streng und wenn er etwas will und man es nicht macht wird er sauer.
Mein Vater ist auch depressiv, was er von seiner Mutter hat und ich angeblich von ihm… und spätestens nach dem Selbstmord seiner Zwillingsschwester (ich war 1 1/2) hat er dicht gemacht. Man muss dazu sagen, dass er in meinen ersten 3 Jahren auf mich aufgepasst hat und ich seinen Stimmungswechsel von liebevollem Vater zu einem ernsten, in sich gekehrten Fremden hautnah miterlebt habe (über ihren Tod hat er NIE geweint) aber natürlich nie verstanden habe. Zumal bis zu meinem 13 Lebensjahr nicht über ihren Tod geredet wurde.
Nur reicht das alles für eine derart schlimme Krankheit???
Und was kann ich tun um gesund zu werden / bleiben???

Lieben Gruss, S.

AM: Was Sie erzählen reicht natürlich vollauf, weil Sie Ihr damaliges Leiden weder FÜHLEN noch ERNSTNEHMEN können. Sie bagatellisieren es, Es REICHT IHNEN NICHT, um Ihre Krankheit zu erklären. Sie mussten sehr früh und sehr gründlich neben diesem Vater lernen, nicht zu fühlen, und nun zwingt Sie Ihre Krankheit dazu, diesen Prozess rückgängig zu machen. Und das können Sie. Wenn Ihre damals erfrorenen Gefühle auftauchen dürfen, werden Sie das Gewicht Ihrer schrecklichen Kindheit entdecken können. Dann wird Ihr Körper nicht mehr nötig haben, Sie dazu zu zwingen. Ob Ihre Mutter Ihnen dabei helfen kann, ist sehr fraglich, denn sie hat sich ja daran beteiligt, Ihre wahren Gefühle zu erwürgen, damit Sie Ihren Vater verstehen sollten.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet