Angst abbauen

Angst abbauen
Thursday 11 February 2010

Liebe Frau Miller,

ich schreibe Ihnen, weil ich noch einmal Kontakt zu der Therapeutin aufgenommen habe, von der ich Ihnen diese Tage berichtet hatte. Sie hatte, als ich ihr von dem emotionalen Missbrauch durch meine Mutter erzählte, das als „geniessen“ bezeichnet, woraufhin ich fassungslos war. Ich hatte danach den nächsten Termin abgesagt und ihr auf Band gesprochen, dass ich auch keine weiteren Termine mehr wünsche. Mir war es aber doch ein Anliegen, ihr mitzuteilen, warum ich nicht mehr kommen wollte. Ich habe eben, vor ein paar Minuten, mit der Frau telefoniert. Sinngemäß möchte ich Ihnen, Frau Miller, von dem Inhalt berichten.

Ich fragte sie ob sie meine Nachricht auf Band gehört hätte und ob sie wissen möchte, warum ich nicht mehr kommen wolle. Daraufhin meinte sie, das sei gut dass ich anrufe, ansonsten hätte sie mich noch einmal kontaktiert. Ich meinte, dass ich das mit dem „geniessen“ voll daneben fand und wie sie im Rahmen einer Therapie einem Menschen, der so gequält wurde wie ich, so etwas sagen könne. Sie hat sich daraufhin mehrmals entschuldigt und gesagt, dass es wohl unbedacht gewesen sei und es ihr leid täte. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich die Liebe meiner Mutter von niemandem mehr erwarte, aber doch einen Beistand. Aus diesem Grunde hätte ich im Erstgespräch auch gesagt, dass ich eine Begleitung suche. Aber dass ich diese Sache mit dem „geniessen“ für alles andere als einen Beistand sehe, sondern als Schonung meiner Eltern auf meine Kosten. Und dass ich mich mittlerweile seit 20 Jahren in Therapien herumgetrieben habe in der Hoffnung Beistand zu finden, aber einsehen musste, dass ich den wohl nicht mehr finden werde. Dass niemand zu mir gesagt hat, dass ich mal zu meinem Vater gehen soll und ihm meine mörderische Wut um die Ohren hauen soll. Aber genau das habe ich ja dann doch getan, völlig alleine. Desweiteren meinte ich, dass alle Therapeuten „Schiss“ vor ihren eigenen Eltern haben und deswegen ihren Klienten nicht beistehen, sondern ihnen stattdessen Deutungen anbieten oder von Verzeihung schwafeln. Und dass mir ihre Deutung „geniessen“ als Freudsche Irreführung des „Geniessens von Mißbrauch“ (ihre Worte Frau Miller) vorkäme. Daraufhin meinte sie, sie hätte großen Respekt und Achtung vor meiner Aufarbeitung und dem was ich erlebt habe. Daraufhin ich erbost, dass ich dann aber ihren Kommentar erst Recht nicht verstehen könne. Sie entschuldigte sich wieder, wenn sie mir damit weh getan hätte. Ich meinte dann, dass mir ihre Deutung so vorkäme, wie die Kernbergschen Deutungen von sexuell missbrauchten Mädchen, wenn er dies als sexuell erregenden Triumpf der Tochter über die Mutter deutet. Ich fragte sie dann wütend:“Wissen sie, was das für mich ist? Schwachsinn, totaler Schwachsinn und Täterschützerei der übelsten Sorte, nichts anderes!!!“ Außerdem meinte ich noch, dass es mir durchaus bewußt sei, dass die meisten Menschen wohl Angst vor meiner Geschichte hätten und vor den dazugehörigen starken Emotionen und damit überfordert seien. Woraufhin sie wiederum sagte, dass ich ja auch selbst damit zeitweise überfordert gewesen sei (was ich irgendwie auch schon wieder daneben fand).

Sie hat mir dann angeboten einen neuen Termin zu machen oder ich das ganze erst einmal sacken lasse und mich vielleicht später noch einmal bei ihr melde. Ich habe mich dann für Letzteres entschieden.

Ich habe mich ehrlich gesagt gewundert, dass sie sich das alles überhaupt von mir angehört hat. Ich habe nämlich schon damit gerechnet, dass sie einfach auflegt oder empört reagiert. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich auf gar keinen Fall von meiner Linie abweichen werde und jegliche Täterschützerei auf meine Kosten nicht dulde. Das Gespräch hat mich im Vorfeld sehr viel Überwindung gekostet, aber es hat sich gelohnt. Vielleicht werde ich noch mal einen Termin mit ihr machen, aber ich bin äußerst skeptisch, ob nicht wieder neue Klöpse in der gleichen Art auftreten. Aber alleine die Möglichkeit die Frau genau zu erkennen, wenn sie meine Eltern in Schutz nimmt, und darüber empört zu sein, hilft mir schon.

Man sollte eigentlich davon ausgehen, dass die KLIENTEN ihre Eltern schonen und der Therapeut korrigierend eingreift und sich auf die Seite des misshandelten Kindes, welches man war, stellt. Aber ich habe es meist eher andersherum erlebt. In den meisten Fällen wollten die Therapeuten ja gar nichts davon hören, was ich als Kind erdulden musste. Und wenn man dann doch etwas erzählt, läuft alles meistens darauf hinaus, dass man Verständnis haben soll, verzeihen soll, aus der Sicht der Eltern sieht usw. usw.
Es wird immer alles dafür getan, dass bloß nicht die starken Gefühle durchbrechen, die einen gesund machen würden (habe ich ihr auch noch gesagt). Das ist im Grunde so dermaßen aberwitzig, dass man sich wirklich fragt, ob diese Menschen die allergeringsten Zusammenhänge von Mißhandlungen, unterdrückten Gefühlen und Symptomen überhaupt verstehen. Denn wenn einem diese Zusammenhänge klar sind, dann kann man doch, angesichts von Mißbrauch und Mißhandlungen, unmöglich einem Klienten zu Verzeihung raten oder von „Genuss“ reden oder ähnlichem Schwachsinn. Ich habe auch nie, nur ein einziges Mal gehört, dass ein Therapeut zu mir gesagt hätte:“Ihre Eltern haben sie schwer mißhandelt und ihre Wut auf ihre eigenen Eltern an ihnen abreagiert. Das hatte zur Folge, dass sie Angstzustände, Panikattacken usw. bekommen haben. Jetzt geht es in der Therapie darum, dass wir an diese Gefühle herankommen, damit sie sehen können wie ihre Eltern wirklich waren und es ihnen wieder gut geht und sie eigenverantwortlich leben können.“ Nein, nein, so etwas hört man nicht, weil die Damen und Herren ja auch nichts aufgearbeitet haben. Und wer nichts aufgearbeitet hat, der wird krank. Und wenn er nicht krank werden will und auch nicht aufarbeiten will, der wird dann eben Psychologe und hat ganz viele „Kinder“ mit denen er vollkommen ungestraft das machen kann, was seine Eltern schon mit ihm gemacht haben. Prügel ist da nicht mehr notwendig, es reicht schon einen in der qualvollen Gefühllosigkeit festzuhalten, indem man die Eltern schont. Und dann wundern sich alle, warum die Symptome nicht verschwinden. Dämlicher gehts wirklich nicht mehr – wir leben im Plem-Plem-Land !!!

Ich habe leider immer wieder festgestellt, dass die allerwenigsten Menschen wirklich aufarbeiten. Dass jemand Therapie macht oder Ihre Bücher gelesen hat, sagt nicht das Geringste aus. Oft habe ich erlebt, wie auch bei meinen Brüdern, dass die Leute es irgendwie schaffen TOTAL zu verdrängen und dann entweder selber Eltern werden oder Therapeut oder Moderator in einem Ourchildhoodforum oder Mitarbeiter bei der Telefonseelsorge usw. und dort dann genau den gleichen Mist fabrizieren, den sie selbst erlebt haben. Nur dieses Mal mit umgekehrten Vorzeichen – dieses Mal sind sie selbst die „Eltern“ die sie früher hatten.

Meiner Ansicht nach gibt es grob drei Arten von Gewalt. Die aktive Gewalt (z.B. Schlagen von Kindern), die passive Gewalt (Wegschauen und nicht eingreifen) und den Betrug (indem man gequälten Menschen etwas als Hilfe verkauft, was sie in ihrer Gefühllosigkeit und dadurch Qual festhält). Wie schön wäre es, wenn unsere Gesellschaft diese Arten von Gewalt konsequent verurteilen und nicht mehr tolerieren würde! Das hätte nur positive Auswirkungen. Statt dessen wird man belohnt wenn man Eltern schont und Kinder quält. Und alles nur, weil man die bittere Wahrheit über die eigenen Eltern nicht ertragen und sehen will. Wie schön wäre es in einer Gesellschaft zu leben, die es nicht toleriert, dass es Therapeuten gibt, die ehemals gequälte Menschen erneut quälen und dafür auch noch belohnt werden. Aber so lange alle lieber „Blinde Kuh“ spielen wollen ändert sich nichts.

Herzliche Grüße, MA

AM: Sie sind Ihren Gefühlen treu geblieben und haben genau das gesagt, was Sie sagen wollten, ohne sich, wie in der Kindheit, durch billige Floskeln einschüchtern zu lassen. Unsere GANZE Gesellschaft, nicht nur die monotheistische, ist seit Millionen von Jahren kinderfeindlich, die Psychoanalyse inbegriffen. „Therapeuten“, die das noch nicht begriffen haben, sind unbrauchbar oder gar gefährlich, indem sie mit allerlei die Wahrheit zudeckenden Theorien die Angst des ehemaligen Kindes vor seinen Eltern noch verstärken. Sie haben wichtige Schritte zu Ihrer Wahrheit gemacht, und das wird Ihre Angst vor Ihrer Mutter verringern. Die Aufgabe der Illusion (meine Mutter hat mich geliebt) ist zweifellos sehr schmerzhaft, aber deren Aufgabe ist auf jeden Fall befreiend. Nicht plötzlich, mit einem Mal, aber Schritt für Schritt. Wir publizieren hier Ihren Bericht, weil er vielleicht andere ermutigen kann, ihre Meinung so präzise auszudrücken, wie Sie es getan haben. Man stirbt nicht davon als Erwachsener, nur in der Kindheit war das Risiko so groß.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet