Das “übergeliebte” Kind

Das “übergeliebte” Kind
Sunday 20 July 2008

Liebe Frau Miller,
seit meinem zwanzigsten Lebensjahr begleiten Ihre Bücher mein Leben. Immer habe ich das kleine Kind gesucht, das ich einmal war, seine Wut, seine Ängste, seine Lebendigkeit, doch jahrelang fand ich keinen Zugang dazu. Den versperrte vor allem meine Mutter mit ihren Sprüchen: “Wir haben dich doch übergeliebt!”

Wie kann man sich empören, wenn man doch “übergeliebt” worden und deshalb seinen “lieben” Eltern lebenslang zu Dankbarkeit verpflichtet ist?
Mir halfen vor allem meine Bilder. Meine Mutter, die stets meine Begabungen bewundert hat (ich glaube, sie hielt das für “Liebe”), hatte einen Großteil meiner Kinderzeichnungen beschriftet und aufbewahrt. Als ich mit Mitte dreißig einen schweren Unfall hatte und drei Monate ans Bett gefesselt war, begann ich, mich dafür zu interessieren. Und ich entdeckte meine Wut.

Diese Wut und Empörung standen am Anfang einer langen Psychotherapie, die ich im vergangenen Jahr endlich beenden konnte. Ihr Buch “Dein
gerettetes Leben” hat mir wesentlich dabei geholfen, auch dabei, meine Therapeuten nicht länger zu idealisieren. Ich hatte immer die Illusion,
der Therapeut würde mich besser kennen als ich selbst! Wie halt die Eltern denken, sie würden ihr Kind besser kennen als es selbst.

Erst im vergangenen Jahr habe ich auch in meinen Träumen den ersten wirklichen Zugang zu meinen Gefühlen als Kind bekommen. Ich finde, dass die Bilder dieser Träume noch eindringlicher und stärker sind, als alles, was ich als Kind gemalt habe.
Ich träumte, dass ich als Kind in einer gläsernen Kabine sitze, bewacht von einer Armee lächelnder Chinesen (meine Mutter).
Ich träumte, dass ich mit meinem Bruder im Garten stehe und plötzlich ein Güterzug, beladen mit Panzern, durch den Garten donnert und mich zu Tode erschreckt (mein Vater).
Ich träumte, um jemanden zu finden, der mich unterstützt, müsse ich über ein Feld voller Tretminen gehen (der Jähzorn meiner Eltern).
Um das zu träumen, musste ich fast fünfzig Jahre alt werden.

Liebe Frau Miller, ich glaube Sie haben Recht mit dem, was sie am 25. Februar 2008 einem englischsprachigen Leser geantwortet haben
(sinngemäß): Die Erinnerungen werden klarer, wenn das Bedürfnis, die Mutter in Schutz zu nehmen, nachläßt. Ist das nicht eine wunderbare
Aussicht? Die Erinnerungen werden klarer! In meinem Weg dahin habe ich mich immer von Ihnen unterstützt gefühlt. Dafür wollte ich mich mit diesem Brief bedanken.

Herzliche Grüße, N.

AM: Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Erfolg, zu Ihrem Mut, Ihre Realität zu sehen und sich von den Lügen zu befreien. Es gab kein “übergeliebtes”, aber ein grausam betrogenes Kind. Es ist wunderbar, wie sich Ihr Unbewusstes in den Träumen äußern konnte, und ein Glück, dass Sie die Inhalte verstehen und ernstnehmen konnten. Das erste würde ohne das letzte nicht genügen. Ich wünsche Ihnen viel Freude an der gewonnenen Freiheit!

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet