Schmetterling

Schmetterling
Wednesday 08 November 2006

Liebe Frau Miller,
seit Beginn diesen Jahres habe ich begonnen, den Schleier zu lüften, der mir meine eigene innere Wahrheit und die Verhältnisse in meiner Herkunftsfamilie immer verdeckt hat. Es ist schmerzlich, aber meine Schwester und eine Freundin sind jetzt meine wissenden Zeugen. Ich weiß es ist gut so, dass ich mich löse und befreie.

Ich stehe jetzt in der Mitte des Lebens. Die innere Veränderung ist noch nicht abgeschlossen, aber es steht jetzt schon kein Stein mehr auf dem anderen. Ich stehe vielmehr inmitten der Trümmer. In diesem Haus kann und will ich nicht mehr leben, aber das neue ist noch nicht da. Ich habe sehr lange allein gelebt, weil ich von Anfang an nur die Einsamkeit in meinem Leben kannte. Ich wünsche mir, dass sich das ändert. Seit einigen Jahren mache ich eine Arbeit, die mir schon lange nicht mehr gut tut. Jetzt suche ich mir eine neue Stelle.

Die innere Entwicklung und das Wissen um die Notwendigkeit der Veränderung – ich weiß, das ist gut so. Zugleich stehe ich inmitten der Trümmer und mein Herz schlägt mächtig vor Angst, ob es ein anderes Leben für mich geben wird, jetzt, wo ich das alte verlassen habe. Die ganze alte Konditionierung bricht nun noch einmal mit voller Wucht hervor, Angst und Einsamkeit verengen alles da, wo ich jetzt Mut und Zuversicht brauche, um mir endlich die lang ersehnten Wünsche zu erfüllen und nicht mehr nur zu träumen und zu verzagen.

Ich weiß es ist gut, dass ich die Gefühle spüre, die aus der Kindheit kommen, sie nicht mehr suche zu verdrängen oder wegzulaufen. Zugleich möchte ich rasch in die Handlungsfähigkeit kommen, denn der Leidensdruck in der Arbeit ist groß, es gibt also was zu TUN, Bewerbungen schreiben und all das. Aber wie krieg ich das hin mit meinem vor Angst gelähmten Körper? Dabei neue Kontakte zu knüpfen hilft der völlige Mangel an Leichtigkeit natürlich auch nicht, eher muss ich noch aufpassen, die alten Kontakte nicht mit meinen Sorgen zu erdrücken.

Es wäre schön, wenn jede Woche einmal jemand für mich da wäre. Aber ich möchte keine Therapie machen, weil mir die Freundin als wissende Zeugin viel lieber ist. Weil es wunderbar ist, dass wir das füreinander tun können, auf gegenseitigen Austausch. Aber trotz lieber Freunde bin ich doch viel Zeit sehr allein mit meiner Angst und dem drängenden Handlungsbedarf. Natürlich sind auch Beziehungen weggefallen, unter den neuen Erkenntnissen zerbrochen.

Ich fühl mich wie im Geburtskanal in mein neues Leben, es ist verdammt eng hier. Es quetscht mich zusammen, ich kann gar nicht tun, um die Geburt zu beschleunigen, während mir hier der Sauerstoff ausgeht und ich weiß, dass ich raus muss. Und raus will, atmen können. Loslassen, entspannen, ankommen. Das Leben das hinter mir liegt war voller Mühen, mühsamer Kampf auf dem Weg von der Dunkelkeit ins Licht. Jetzt vermute ich das Licht schon in der Nähe, aber ich fühl es ja noch nicht, fühle nur Angst, Spannung, allein sein. Deshalb schreibe ich ihnen. Um es zu sagen, wie es ist.

Es fällt mir jetzt auf, dass ich mich in den ganzen Brief als Kind sehe, das nicht tun kann, um auf die Welt zu kommen. Während ich doch weiß, dass ich was tun muss, um meine Wünsche zu erfüllen, ich und niemand anders. Erwachsen sein, endlich etwas tun können, nicht mehr nur aushalten müssen, sondern pressen, um die Geburt voranzutreiben. Schon viel zu lange in der Rolle des Kindes gewesen, das zu den anderen aufschaut, von ihnen die Antworten sucht, ihnen zu gefallen sucht….all das. Darum geht es, das weiß ich auch, aber wie ich über die Geburt geschrieben habe, anscheindend weiß ich es noch nicht ganz, noch nicht durchgängig. Bin als ein Teenager, nicht mehr Kind und noch nicht erwachen. (Erst Kind, dann Teenager, wenn ich weiterschreibe, schaffe ich es noch zum Erwachsenen. Den Brief schreiben, das ist Therapie, es geht mir nicht um die Antwort. Es sei denn Sie sehen etwas, was ich nicht sehe und das ganz wichtig für mich wäre, es zu wissen).

Erwachsen sein, was ist das? Meinen eigenen Gefühlen und meiner Wahrnehmung trauen. Das tu ich jetzt, dieses Jahr, zum ersten Mal so richtig. Verantwortung übernehmen, das macht mir mehr Lust als Angst. Aber das Kind in mir hat noch Angst. Es lässt sich nicht von vernünftigen Argumenten trösten und ermutigen. Es weint und schreit. Und ich bin hilflos, erschrecke vor seinen Gefühlen. Weiß nicht, wie ich ihm helfen kann, da ich nur die Vernunft kenne, die hier versagt.

Was will das Kind denn? Da sein dürfen, mit all seinen Gefühlen, Ängsten und seiner Not. Und nachdem ich es 40 Jahre still gehalten habe, darf es sich da nicht ganz ausschreien, ausweinen? Hat es nicht das Recht dazu, nach einem Leben lang voll der Unterdrückung? Ich kann mich doch nicht mit der Stopp Uhr daneben stellen. Und sagen: Jetzt ist aber genug. Jetzt machen wir weiter. Haben das nicht meine Eltern zu mir gesagt: Jetzt ist aber genug. Zorn abstellen, Angst abstellen, Gefühle abstellen, alles abstellen. Ganz kurz darf es ja da sein, aber dann ganz schnell Deckel drauf.

Und das mach ich jetzt auch. Die Gefühle, die echten, die wahren tauchen auf, aber der Schmerz darf nicht zu lang, nicht zu schwer sein, das macht mir Angst. Es macht mir Angst, dass ich dann nicht gut genug funktioniere, meine Arbeit nicht gut genug schaffe. Ich hab Angst, der Schmerz hört gar nicht auf, wenn ich ihn nicht zur Räson rufe. Aber wahrscheinlich ist er im Gegenteil noch immer da, weil ich ihn immer zur Räson gerufen habe. Ich muss ihm Zeit geben, dass er da sein darf, solange es eben dauert. Ich kann doch trotzdem aufstehen, zur Arbeit gehen, diese auch machen, Freunde treffen, ich kann doch trotzdem anfangen, in kleinen Schritten, mich zu bewerben, es bricht ja gar nicht alles zusammen, nur weil ich es gerade schwer hab. Die Erwachsene in mir ist ja zur Stelle und sie passt schon auf, auf sich und auf das Kind und auf unser Leben.

Ja, die Erwachsene ist schon da, sie sorgt für das Kind. Das Kind darf seinen Kummer voll ausleben, ich kann es in meiner Geborgenheit halten. Es darf bei mir sein, traurig und zornig und wütend, darf alles sein, was es damals nicht durfte. Jetzt ist alles möglich. Sogar: die Angst fühlen ohne Angst vor ihr.

In Verbundenheit mit Ihnen und den anderen Menschen, die auf ihrer wunderbaren homepage schreiben, V. R.

AM: Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief und gratuliere Ihnen zu Ihrer Entscheidung. Ja, genau darum geht es: Wenn Sie beschlossen haben, den Schleier wegzuziehen, das Kind in seinem Schmerz zu sehen und ihm beizustehen, werden Sie mit der Zeit, ohne besondere Übungen, ganz von alleine lernen, es zu lieben. Denn Sie werden ihm zuhören, es vor Grausamkeit und Spott beschützen und “keine Angst mehr vor seiner Angst haben”. Da Sie außerdem die Zeugen gefunden haben, bei denen Sie Ihre Gefühle zulassen können und Sie verstehen lernen, kann Ihnen nichts Schlimmes auf diesem Weg passieren. Sie werden sich selbst hier kennen lernen, und das ist das schönste Geschenk, das uns das Leben zu bieten hat.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet