Opfer der verlogenen Erziehung

Opfer der verlogenen Erziehung
Sunday 12 March 2006

Liebe Alice Miller,

ich habe in den letzten zwei Wochen drei ihrer Bücher gelesen (Das Drama.., Evas Erwachen und Am Anfang war Erziehung) und kann Ihnen gar nicht sagen wie glücklich ich bin, dass endlich mal jemand genau das aufschreibt, was ich immer irgendwie gefühlt habe, aber mich nicht wirklich getraut habe zu fühlen. Bzw. erinnerte ich mich bei der Lektüre ihrer Bücher immer wieder an die Begebenheiten in meiner Kindheit und auch, wie ich – als das ständig „böse“ Kind in unserer Familie – immer wieder versucht habe meinen Eltern genau das nahe zu bringen, was Sie in Ihren Büchern beschreiben: Dass es doch nicht sein kann, dass ein kleines Kind einfach böse ist und deshalb grundsätzlich an jedem Streit die alleinige Schuld haben soll. Es ist unglaublich, dass dieses Wissen einfach in uns (noch unglaublicher: in mir) drin ist, und ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie es aussprechen und diesem Wissen das Recht auf Leben zurückgeben und damit dem Menschen, der dieses Wissen in sich hat.

Als ich 14 war, sagte mein Vater zu mir „Früher warst du so brav, aber jetzt machst du uns gar keine Freude mehr.“ Ich entgegnete ihm: „Ich bin auch nicht auf der Welt, um Euch Freude zu machen.“ (Woraufhin mein Vater mal wieder beleidigt war und Tage lang nicht mehr mit mir sprach; neulich erzählte mir mein Vater stolz, dass er mit meinen Bruder einmal ein halbes Jahr nicht mehr gesprochen habe, weil er sich von ihm beleidigt fühlte….)

Mit 17 bin ich zuhause ausgezogen und hatte jahrelang nur noch sporadischen Kontakt zu meinen Eltern (aus kleinen, z.T. bäuerlichen Verhältnissen kommend, mittlerweile bürgerlich, materieller Wohlstand, „anständige“ geachtete Bürger, die viele Freunde haben). Erst als ich selbst Mutter wurde, habe ich mich mit meinen Eltern „versöhnt“ – allerdings ohne dass jemals darüber gesprochen wurde, wie ignoriert und wenig wahrgenommen ich mich von ihnen fühlte; ich hatte immer zuviel Angst davor, dass sie mich wieder als „hysterisch, fordernd, überkritisch und bösartig“ (Zitate: „Du machst auch Fehler“, „Die Vergangenheit soll man ruhen lassen“, „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern“, „Wirst es schon verdient haben“, etc.) abtun, wenn ich davon anfange.

Mittlerweile ist mein Sohn 12 – und in den letzten Jahren neigte ich immer mehr dazu, meine Eltern zu verstehen (so nach dem Motto: Kinder sind eben auch oft eine Plage, sie können einen reizen bis aufs Blut, etc.) und ich – die ehemalige Rebellin gegen meine Eltern – verhielt mich als Mutter genauso wie meine Eltern. Ich missbrauchte ihn als Abfalleimer für meine Gefühle und behandelte ihn im Großen und Ganzen wie einen Erwachsenen. Ab und zu „rutschte mir auch die Hand“ aus, was zwar jedes Mal große Schuldgefühle in mir erzeugte und ich entschuldigte mich auch jedes Mal bei meinen Sohn, aber letztlich trug meine Unsicherheit und Unsouveränität dazu bei, dass mein Sohn mich nicht mehr als Mutter, die ihm Orientierung und Halt gibt, betrachten konnte. Vor ca. einem halben Jahr begann dann eine Phase, in der unsere Streits eskalierten. Schließlich haben wir uns Hilfe bei einem Kinderpsychologen geholt. In einem längeren Gespräch mit ihm hat er mir soviel Verständnis und Wärme entgegen gebracht, dass ich mein destruktives Verhalten aufgeben konnte. Auch mein Sohn ist viel einsichtiger geworden, nicht im Sinne von brav, sondern dass er mit sich reden lässt und bereit ist, bestimmte Grenzen und Regeln zu akzeptieren (zu einer adäquaten Uhrzeit ins Bett gehen, einmal die Woche im Haushalt mithelfen, Hausaufgaben machen, etc.)

Als ich neulich meiner Mutter von meinen Erziehungsproblemen berichtete, erklärte sie mir, wie „toll“ sie sich in solchen Fällen immer verhalten habe und dass ich früher damit hätte anfangen müssen, meinen Sohn zu erziehen. Da wurde ich so wütend, wie ich das früher oft war und fragte sie zornig, warum sie denn dann mich so beschissen erzogen habe, wenn sie es so gut könne. Daraufhin wollte meine Mutter nicht mehr telefonieren. Abends rief mein Vater an: Warum ich denn meine Mutter wie den letzten Dreck behandeln würde. Sie sei krank (72 Jahre alt, seit Jahren sich steigernde Neurodermitis!!) und bedürfe der Schonung. Ich sagte, ich hätte den ganzen Tag gearbei

Opfer der verlogenen Erziehung
Sunday 12 March 2006

Liebe Alice Miller,

ich habe in den letzten zwei Wochen drei ihrer Bücher gelesen (Das Drama.., Evas Erwachen und Am Anfang war Erziehung) und kann Ihnen gar nicht sagen wie glücklich ich bin, dass endlich mal jemand genau das aufschreibt, was ich immer irgendwie gefühlt habe, aber mich nicht wirklich getraut habe zu fühlen. Bzw. erinnerte ich mich bei der Lektüre ihrer Bücher immer wieder an die Begebenheiten in meiner Kindheit und auch, wie ich – als das ständig „böse“ Kind in unserer Familie – immer wieder versucht habe meinen Eltern genau das nahe zu bringen, was Sie in Ihren Büchern beschreiben: Dass es doch nicht sein kann, dass ein kleines Kind einfach böse ist und deshalb grundsätzlich an jedem Streit die alleinige Schuld haben soll. Es ist unglaublich, dass dieses Wissen einfach in uns (noch unglaublicher: in mir) drin ist, und ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie es aussprechen und diesem Wissen das Recht auf Leben zurückgeben und damit dem Menschen, der dieses Wissen in sich hat.

Als ich 14 war, sagte mein Vater zu mir „Früher warst du so brav, aber jetzt machst du uns gar keine Freude mehr.“ Ich entgegnete ihm: „Ich bin auch nicht auf der Welt, um Euch Freude zu machen.“ (Woraufhin mein Vater mal wieder beleidigt war und Tage lang nicht mehr mit mir sprach; neulich erzählte mir mein Vater stolz, dass er mit meinen Bruder einmal ein halbes Jahr nicht mehr gesprochen habe, weil er sich von ihm beleidigt fühlte….)

Mit 17 bin ich zuhause ausgezogen und hatte jahrelang nur noch sporadischen Kontakt zu meinen Eltern (aus kleinen, z.T. bäuerlichen Verhältnissen kommend, mittlerweile bürgerlich, materieller Wohlstand, „anständige“ geachtete Bürger, die viele Freunde haben). Erst als ich selbst Mutter wurde, habe ich mich mit meinen Eltern „versöhnt“ – allerdings ohne dass jemals darüber gesprochen wurde, wie ignoriert und wenig wahrgenommen ich mich von ihnen fühlte; ich hatte immer zuviel Angst davor, dass sie mich wieder als „hysterisch, fordernd, überkritisch und bösartig“ (Zitate: „Du machst auch Fehler“, „Die Vergangenheit soll man ruhen lassen“, „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern“, „Wirst es schon verdient haben“, etc.) abtun, wenn ich davon anfange.

Mittlerweile ist mein Sohn 12 – und in den letzten Jahren neigte ich immer mehr dazu, meine Eltern zu verstehen (so nach dem Motto: Kinder sind eben auch oft eine Plage, sie können einen reizen bis aufs Blut, etc.) und ich – die ehemalige Rebellin gegen meine Eltern – verhielt mich als Mutter genauso wie meine Eltern. Ich missbrauchte ihn als Abfalleimer für meine Gefühle und behandelte ihn im Großen und Ganzen wie einen Erwachsenen. Ab und zu „rutschte mir auch die Hand“ aus, was zwar jedes Mal große Schuldgefühle in mir erzeugte und ich entschuldigte mich auch jedes Mal bei meinen Sohn, aber letztlich trug meine Unsicherheit und Unsouveränität dazu bei, dass mein Sohn mich nicht mehr als Mutter, die ihm Orientierung und Halt gibt, betrachten konnte. Vor ca. einem halben Jahr begann dann eine Phase, in der unsere Streits eskalierten. Schließlich haben wir uns Hilfe bei einem Kinderpsychologen geholt. In einem längeren Gespräch mit ihm hat er mir soviel Verständnis und Wärme entgegen gebracht, dass ich mein destruktives Verhalten aufgeben konnte. Auch mein Sohn ist viel einsichtiger geworden, nicht im Sinne von brav, sondern dass er mit sich reden lässt und bereit ist, bestimmte Grenzen und Regeln zu akzeptieren (zu einer adäquaten Uhrzeit ins Bett gehen, einmal die Woche im Haushalt mithelfen, Hausaufgaben machen, etc.)

Als ich neulich meiner Mutter von meinen Erziehungsproblemen berichtete, erklärte sie mir, wie „toll“ sie sich in solchen Fällen immer verhalten habe und dass ich früher damit hätte anfangen müssen, meinen Sohn zu erziehen. Da wurde ich so wütend, wie ich das früher oft war und fragte sie zornig, warum sie denn dann mich so beschissen erzogen habe, wenn sie es so gut könne. Daraufhin wollte meine Mutter nicht mehr telefonieren. Abends rief mein Vater an: Warum ich denn meine Mutter wie den letzten Dreck behandeln würde. Sie sei krank (72 Jahre alt, seit Jahren sich steigernde Neurodermitis!!) und bedürfe der Schonung. Ich sagte, ich hätte den ganzen Tag gearbeitet und einen Haufen Probleme und keine Lust mir sagen zu lassen, was ich alles falsch mache. Daraufhin mein Vater: Du HAST keine Probleme. Ich legte auf mit den Worten, ich will Euch nie wieder sehen. Wobei ich selbst überrascht über die Heftigkeit meiner Gefühle war, die da plötzlich hoch kamen.

Konsequenz: Meine Eltern gratulierten mir noch nicht einmal zum Geburtstag (ich wurde am nächsten Tag 38 Jahre alt).

Mittlerweile bin ich sehr froh über diesen Streit. Ich rufe nicht an und erwarte auch keinen Anruf. Mir ist klar, dass ich nichts mehr tun werde, um eine Versöhnung herbei zu führen. Das erfüllt mich mit großer Erleichterung. Und seitdem das klar ist, hat so eine Art Trauerarbeit begonnen, mir ist einfach klar geworden, dass ich nicht die Ursache für die Krankheiten und Unzulänglichkeiten meiner Eltern bin, sonder vielmehr das OPFER dieser verlogenen und ignoranten Erziehung, und dass ich auf keinen Fall möchte, dass mein Sohn das OPFER meiner Erziehung wird.

In dieser Zeit habe ich dann – auf den Tipp einer Freundin hin – angefangen, Ihre Bücher zu lesen und fühle mich so wunderbar verstanden. Ich heule fast jeden Tag, mal 10 Minuten, mal eine Stunde lang, egal… und bin einfach nur froh, dass ich endlich traurig sein darf, weil das was ich immer gefühlt habe, richtig war. Weil mir meine Eltern meine Gefühle nicht mehr wegnehmen dürfen. Seitdem hatte ich übrigens keine einzige Eskalation mit meinem Sohn mehr, ihn weder geschlagen noch angeschrieen oder mit irgendwas Unsinnigem bestraft – obwohl wir durchaus streiten und er und auch ich nicht über Nacht ausgeglichene friedliche Menschen geworden sind. Aber das Streiten ist nicht mehr als Meinungsverschiedenheit, danach kann man sich wieder in den Arm nehmen und miteinander gut sein. Mein Sohn erzählt mir jetzt manchmal, was er sich an Gemeinheiten gegen mich ausdenkt (z.B. dass mir etwas auf den Kopf fällt oder dass ich meinen Schlüssel vergesse), wenn er so wütend auf mich ist, ich erzähle ihm auch manchmal meine bösen Gedanken, dann lachen wir.

Gestern war ich übrigens im Film „Capote“ und dachte, dass die dort angezeigten Charakterstudie von Truman Capote und seinem „Alter Ego“ Perry Smith genau nach „Ihrem Geschmack“ sein müsste. Ich dachte, der Regisseur hat bestimmt Alice Miller gelesen.

Vielen Dank und meinen allergrößten Respekt für Ihre mutige und einmalige Arbeit

Alles Gute für Sie.

C. B.

AM: Vielen Dank für Ihren redlichen und so einleuchtenden Brief. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen mein letztes Buch „Die Revolte des Körpers“ Freude machen wird, weil Sie für neue Erkenntnissse so offen sind. Viel Erfolg weiterhin auf Ihrem Weg wünsche ich Ihnen.tet und einen Haufen Probleme und keine Lust mir sagen zu lassen, was ich alles falsch mache. Daraufhin mein Vater: Du HAST keine Probleme. Ich legte auf mit den Worten, ich will Euch nie wieder sehen. Wobei ich selbst überrascht über die Heftigkeit meiner Gefühle war, die da plötzlich hoch kamen.

Konsequenz: Meine Eltern gratulierten mir noch nicht einmal zum Geburtstag (ich wurde am nächsten Tag 38 Jahre alt).

Mittlerweile bin ich sehr froh über diesen Streit. Ich rufe nicht an und erwarte auch keinen Anruf. Mir ist klar, dass ich nichts mehr tun werde, um eine Versöhnung herbei zu führen. Das erfüllt mich mit großer Erleichterung. Und seitdem das klar ist, hat so eine Art Trauerarbeit begonnen, mir ist einfach klar geworden, dass ich nicht die Ursache für die Krankheiten und Unzulänglichkeiten meiner Eltern bin, sonder vielmehr das OPFER dieser verlogenen und ignoranten Erziehung, und dass ich auf keinen Fall möchte, dass mein Sohn das OPFER meiner Erziehung wird.

In dieser Zeit habe ich dann – auf den Tipp einer Freundin hin – angefangen, Ihre Bücher zu lesen und fühle mich so wunderbar verstanden. Ich heule fast jeden Tag, mal 10 Minuten, mal eine Stunde lang, egal… und bin einfach nur froh, dass ich endlich traurig sein darf, weil das was ich immer gefühlt habe, richtig war. Weil mir meine Eltern meine Gefühle nicht mehr wegnehmen dürfen. Seitdem hatte ich übrigens keine einzige Eskalation mit meinem Sohn mehr, ihn weder geschlagen noch angeschrieen oder mit irgendwas Unsinnigem bestraft – obwohl wir durchaus streiten und er und auch ich nicht über Nacht ausgeglichene friedliche Menschen geworden sind. Aber das Streiten ist nicht mehr als Meinungsverschiedenheit, danach kann man sich wieder in den Arm nehmen und miteinander gut sein. Mein Sohn erzählt mir jetzt manchmal, was er sich an Gemeinheiten gegen mich ausdenkt (z.B. dass mir etwas auf den Kopf fällt oder dass ich meinen Schlüssel vergesse), wenn er so wütend auf mich ist, ich erzähle ihm auch manchmal meine bösen Gedanken, dann lachen wir.

Gestern war ich übrigens im Film „Capote“ und dachte, dass die dort angezeigten Charakterstudie von Truman Capote und seinem „Alter Ego“ Perry Smith genau nach „Ihrem Geschmack“ sein müsste. Ich dachte, der Regisseur hat bestimmt Alice Miller gelesen.

Vielen Dank und meinen allergrößten Respekt für Ihre mutige und einmalige Arbeit

Alles Gute für Sie.

C. B.

AM: Vielen Dank für Ihren redlichen und so einleuchtenden Brief. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen mein letztes Buch „Die Revolte des Körpers“ Freude machen wird, weil Sie für neue Erkenntnissse so offen sind. Viel Erfolg weiterhin auf Ihrem Weg wünsche ich Ihnen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet