Wir MÜSSEN Winnenden verstehen

Wir MÜSSEN Winnenden verstehen
Friday 13 March 2009

Liebe Alice Miller und Team,

es mag zynisch klingen, jedoch überrascht mich der Amoklauf des Schülers in
Winnenden keineswegs. Eher verwundert es mich manchmal, dass nicht mehr
passiert. Wie lange mögen sich diese Aggressionen und dieser tiefe Hass auf die
Menschen in dem Jungen aufgestaut haben, ehe sich alles auf solch schreckliche
Weise entladen hat.

Wie immer sind die Reaktionen der Öffentlichkeit hilflos. Dabei ist es doch
offensichtlich, wo die Wurzeln zu suchen sind. Einen Vater, der Waffennarr ist,
ein Jugendlicher, der unauffällig ist (was heisst das,
“unauffällig”??), ein gutbürgerlicher Hintergrund mit Geld. Wie aber
war diese Kindheit in der ERLEBTEN INNEREN Wirklichkeit dieses Kindes und
später des Jugendlichen?
Die Polizei, die Psychologen, sicher machen sie ihre Arbeit; aber es scheint
wie immer die (eigene) Verdrängung am Werk. EHRE DEINE ELTERN!

All dies hatten wir schon einmal in Erfurt und haben nichts daraus gelernt.

Ganz sicher spielt die frühe Kindheit und die elementare Verdrängung des
Hasses die zentrale Rolle – bis sich dieser Hass entlud.
Und ganz sicher gab es in dieser Kindheit und Jugend tiefe Einsamkeit und KEINE
wissenden Zeugen!

Ich weiss nicht, warum Sie und Ihr Team nicht die Medien/die Öffentlichkeit
mehr informieren; aber evtl. haben Sie es versucht und die Öffentlichkeit will
es nicht hören? Auf alle Fälle halte ich es für dringend notwendig, dass wir
alle aufwachen. Gibt es denn keine Möglichkeiten, der Presse, dem Fernsehen
etc. diese Informationen zukommen zu lassen?

Es muss doch irgendwo in der Öffentlichkeit auch Menschen geben, die das alles
sehen können, die sehen, dass die Muster der Eltern immer weiter gegeben
werden, bis sie endlich durchbrochen werden. Dies gilt für die ganze
Gesellschaft.

Bitte machen Sie mit Ihrer Arbeit weiter. Ich bin sicher, Sie hat vielen
Menschen geholfen. Leider kann sie noch nicht diese Schreckensszenarien
verhindern.

B. M.

AM: Ein Berichterstatter im ZDF zitierte neulich die Rede des Bundespräsidenten Rau, der nach dem Amoklauf in Erfuhrt gesagt haben soll: Wir werden solches NIEMALS verstehen können. Das wird heute noch ständig von den meisten Deutschen wiederholt, aber zum Glück nicht von allen. Ihr Brief und ähnliche, die wir hier bekommen, zeigen, dass man dieses Phänomen sehr wohl verstehen kann, wenn man dies will, wenn man die Fähigkeit noch behalten hat, sich in das Leiden eines Kindes einzufühlen, das seine Gefühle auf keinen Fall frei artikulieren darf. Es hat mich sehr gefreut, dass hier Menschen schreiben, die den Mut haben, die Wahrheit zu sehen und auszusprechen. Sie sehen, wie die Zeitbomben produziert werden, wie “unauffällige”, äusserlich gut angepasste Kinder mit einer ständig wachsenden, aber nie artikulierten Wut im Bauch leben müssen (allenfalls mit den zusätzlich unterdrückenden Antidepressivas), die sich dann plötzlich an Unschuldigen entlädt. Ich habe dies in verschiedenen Varianten in meinen Büchern beschrieben. Wenn Sie so wollen, kann man auch Hitler und seine Helfer als permanente Amokläufer bezeichnnen.
Wir danken Ihnen und den anderen, die zu diesem Thema geschrieben haben und publizieren Ihren Brief stellvertretend für einige anderen. Sie fragen: Gibt es denn keine Möglichkeiten, der Presse, dem Fernsehen
etc. diese Informationen zukommen zu lassen? Ich weiß es nicht, Sie müssen es versuchen. Meine bisherigen Versuche haben jedenfalls gescheitert.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet