Der Krampf der Seele

Der Krampf der Seele
Wednesday 19 August 2009

Liebe Frau Miller,

ich möchte, dass Sie davon erfahren, wie sehr Sie mir mit Ihren Büchern und Ihrer Website geholfen haben und noch helfen. Welche Erleichterung war es für mich, als ich im Oktober letzten Jahres auf Ihre „Revolte des Körpers“ stieß und fand erstmalig konsequentes Zu-Ende-Denken in Bezug auf das Verhältnis zu den alten Eltern: ich muss nicht verzeihen- nein, das schadet mir- ich muss nicht den Kontakt aufrecht erhalten, ich darf aufhören, meine Gefühle zu vergewaltigen. Ich kann die Therapeutin wechseln! Ich muss mich nicht, nachdem ich in der Therapie das Ausmaß meines Zorns auf meine Eltern zu erahnen anfing, mit dunklen Sätzen wie: „egal was du tust, sie bleibt deine Mutter“ oder „die Bindung bleibt“ zufrieden geben. Ich muss nicht glauben, dass neben dem Zorn auf meine Mutter die Liebe zu ihr wohnt ( oder wohnen sollte, wenn ich moralisch einwandfrei funktionierte ), dass ich nun ausreichend geweint und gewütet habe, um die „versäumte Pubertät nachzuholen“ und in der Elternbeziehung zur Tagesordnung übergehen könne. Welch eine Wohltat, liebe Frau Miller, endlich die dauernde kräftezehrende Anstrengung beenden zu dürfen, mit geschicktem Verdrängen, Ausblenden und Umdeutungen des Verhaltens meiner Eltern das quälende dumpfe Mißempfinden in der Tiefe zum Schweigen bringen zu müssen. Kein Wunder, dass ich davon ständigen Kopfschmerz und Migräne entwickelte! Durch Ihre mutigen Bücher konnte ich mich endlich darauf berufen, dass es Erkrankungen gab, die durch Distanz von den Eltern heilten und durch neuerlichen Kontakt mit den Eltern aufs neue ausbrachen. Wie grässlich hatte ich vorher in der Falle gesessen! Ideen wie: „besser, ich sterbe, das ist der einzige Weg, den Forderungen meiner Mutter zu entkommen“ waren Ausdruck des Ohnmachtsgefühls, das sich meiner bemächtigt hatte, wenn ich schmerzgepeinigt mein Dasein nur noch als grauen Tunnel sah ( ich gab deshalb meinen Beruf auf). Nicht genug, dass ich mich seit Jahren intensiv damit abmühe, die Verletzungen, die mir in der Kindheit zugefügt wurden, zu erkennen, nachzuerleben und ihre Auswirkungen auf mein jetziges Leben zu verringern, nein, ich sollte immer noch den Eltern zur Verfügung stehen, sie seelisch nähren, die irrationalen Ängste mildern und den Reden voller Menschenhaß, Misstrauen und Feindseligkeit mein williges Ohr leihen. So wollen es meine Eltern, so will es der gesellschaftliche Konsens, so stellte es sich die Therapeutin vor ( ich sei jetzt “erwachsen“, die Eltern könnten mir nichts mehr anhaben ), so erwartet es meine Tochter ( ja, horribile dictu, so habe ich es ihr früher beigebracht! „Sie sind doch so alt, man muss Mitleid haben“), und so- und das ist vielleicht das Schlimmste- will es der in meinen ersten Lebensjahren implantierte Zensor in mir, der mich mit Schuldgefühlen geißelt, wenn ich zu vergessen drohe, dass ich nur überleben darf, wenn ich williges, funktionstüchtiges Objekt meiner Elterngötter bin. Und deswegen ist Ihre Website so unendlich wertvoll: sie bietet Unterstützung in diesem Schwimmen gegen den Strom, mit immer wieder neuen Beiträgen, in denen ich meine Schwierigkeiten wiedererkenne, deutlicher erkenne, emotional in Resonanz trete, mich nicht mehr so einsam fühle mit meinem Aufbegehren gegen die Eltern. Mit immer wieder neu formulierter Beschreibung der kindlichen Realität kann ich gegen die Alles-Aus-Liebe-Propaganda meiner Kindheit angehen. Meine ganz besondere Schwierigkeit liegt darin, dass meine Mutter ihren absoluten Herrschaftsanspruch über mich und die weitgehende Zerstörung meines Selbst ständig mit großem Aufwand versteckt, beschönigt und geleugnet hat. Selbst als Erwachsene vermochte ich jahrzehntelang ( ich bin jetzt 54! ) diese Strategie nicht grundsätzlich zu durchschauen. Die daraus entstehende Gefühlsverwirrung begleitet mich, wenn auch inzwischen abgeschwächt, bis heute. Lediglich manchmal in Träumen und als Stellvertreterin in Familienaufstellungen ( die mich ansonsten in die Irre führten ) spürte ich eindeutige, klare Gefühle. Wie bei einem Aquarell, dessen Farben zu sehr vermischt wurden und die dadurch die Leuchtkraft, die die reineren Farben besitzen, eingebüßt haben und stumpf und tot wirken, so wurde mein Gefühlsleben der Klarheit und Lebendigkeit beraubt, was zu ständiger Erschöpfung führte. Das krasseste- und plumpste- Beispiel dieser Verwirrtechnik war die Behauptung meiner Mutter, wenn sie ihre Wut mit Schlägen und Beleidigungs-und Einschüchterungsgeschrei abreagiert hatte und vielleicht mit einer leisen Bestürzung auf das vernichtete Kind vor sich blickte, sie habe das „aus Liebe“ getan. (Vielleicht war es aber gar nicht Bestürzung, sondern sie erinnerte sich lediglich, wie heftig sie als junges Mädchen ihren rohrstockschlagenden Vater gehasst hatte und wollte sich gegen eine ähnliche Wirkung auf mich absichern.) Andere Misshandlungen wurden besser getarnt. Dass die schlichte Frage, ob ich Tee oder Malzkaffee zum Frühstück trinken wollte,und meine Entscheidung für Tee dann eine lange Erörterung meiner Mutter auslöste, warum Kaffee vorzuziehen sei, so dass ich schließlich resigniert nach Kaffee verlangte, jetzt aber durchaus auch Argumente für den Tee vorgebracht wurden, mag auf den ersten Blick einfach nur absurd wirken. Inzwischen glaube ich aber, dass solche Redeschwälle mein Bewusstsein zur Wahrnehmung der eigenen Wünsche nachhaltig schädigte. Schon mit etwa vier Jahren hatte ich begriffen, dass das Äußern eines Wunsches in einem Geschäft unweigerlich dazu führen würde, dass mir dieser Wunsch abgeschlagen würde. Das einzige Mittel, das unter günstigen Umständen zum Erfolg führen würde, war, das Gewünschte sehnsüchtig und entsagungsvoll anzublicken. So erzieht man aufrichtige Kinder zu Schauspielerinnen und Manipulatorinnen und macht das Hegen eines Wunsches zu einer Unanständigkeit. Kein Wunder, dass ich wenige Jahre später bis vor kurzem bei vielen Gelegenheiten nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was ich jetzt wohl möchte oder bräuchte- statt dessen tat sich in meiner Vorstellung nur eine gähnende graue Fläche auf, geruch- und gefühllos. Ich glaube, dass meine Mutter die absolute Kontrolle über mein Denken und Fühlen anstrebte. Dazu passt auch, dass mein Zimmer mit einer Glasscheibe in der Tür ausgestattet war. Auf diese Weise hatte ich nie einen eigenen Rückzugsraum, auch mit 18 Jahren nicht, zumal ein Anklopfen vor dem Betreten des Zimmers meinen Eltern nie in den Sinn gekommen wäre. Wen wundert es, dass ich zeitlebens Not hatte, mich abzugrenzen! Beispielsweise bin ich erst vor wenigen Jahren auf den Gedanken gekommen, ich könnte zudringliche Fragen mit „darüber möchte ich nicht sprechen!“ beantworten.Am schwersten für mich zu enthüllen sind die nie ausgesprochenen, auf den ersten Blick gänzlich unwahrscheinlichen und der Mutter völlig unbewussten Abwertungen, wie das „du bist eine Last!“ Wie konnte ein erklärtes „Wunschkind“, das seiner gesunden jungen Mutter soziales Prestige und Befreiung von ihrer ungeliebten Berufstätigkeit verschaffte, das den Eltern in den wohnraumknappen Nachkriegsjahren zu einer Neubauwohnung verhalf, eine Last sein? Es müssen die natürlichen Bedürfnisse eines Säuglings und Kleinkinds gewesen sein, die meine liebesunfähige Mutter schnell überforderten und ihr zügige Dressur geraten scheinen ließen. Wie könnte man sonst als alte Frau noch befriedigt seiner Enkelin erzählen, wie das Problem des nächtlichen Schreiens bei deren Mutter wunderbar in den Griff zu bekommen war: nach drei Nächten stundenlangen Weinens gab das Kind auf und war still. Vermutlich habe ich in jenen Nächten als Säugling und Kleinkind hinreichend Todesängste und ohnmächtiges Grauen durchlitten, dass mir die Flügel auf Jahrzehnte hinaus gestutzt waren und ich es nicht wagen konnte, nachhaltig gegen den Missbrauch durch die Mutter aufzubegehren.

Schwierig und langwierig ist mein Ringen mit den Kollaborateuren meiner Mutter, die sie mir in jenen frühen Jahren eingepflanzt hat. Fand es zuerst nur auf der somatischen Ebene statt mit einer Vielzahl psychosomatischer Reaktionen, äußerte es sich ab dem 25. Lebensjahr zunehmend auch in einem dumpfen, mir unverständlichen Impuls, meine Eltern zu meiden. Mit 40 Jahren machte ich einen ersten zaghaften Versuch einer Klärung des Verhältnisses zu den Eltern, das ich als zunehmend unecht erlebte und war völlig erstaunt, aber auch vernichtet von der wutschäumenden Reaktion meiner Eltern. Erst nachdem ich 2001 Ihre ersten drei Bücher gelesen hatte, begriff ich zumindest intellektuell, dass meine Kindheit so großartig nicht gewesen war, wie man mir hatte weißmachen wollen und unternahm neue Versuche, den Übergriffen meiner Mutter Widerstand zu leisten- die Rückfälle erfolgten schnell, weil die mir nicht fühlbare Angst vor elterlichen Sanktionen ( ich vermochte nur die körperliche Symptomsprache zu deuten ) in den Rücken fiel. Erst durch die neue körperliche Krisis der letzten Jahre ist es mir gelungen, jetzt endlich den Kontakt zu den Eltern abzubrechen. Obwohl ich inzwischen einen neuen Therapeuten gefunden habe, der meine Abkehr von den Eltern gutheißt, obwohl mich mein Mann darin unermüdlich unterstützt, obwohl die intensive Beschäftigung mit Ihren Büchern mir sehr dabei helfen, mein Selbst zu finden und zu nähren, ist der Kampf gegen den Feind in mir noch nicht gewonnen. Die erfinderische Angst überfällt mich zeitweise mit heftigen Zweifeln, die geradezu unglaublich ausgeprägte Fähigkeit zur vollständigen Verdrängung, die mich vor Zeiten rettete, jetzt aber der falschen Seite in die Hände spielt, wollen mich immer wieder zurückdrängen. Seit Monaten muss ich allmorgendlich die muskulären Verkrampfungen, die die nächtlichen Kämpfe zurückließen, lockern. Nach wie vor zeigen sich in meinen innigen Beziehungen die destruktiven Auswirkungen der frühen Lektion, dass Liebe mit Demütigung, Kontrolle, Verletzung und Missbrauch einhergehe. Ihre Website stellt dagegen ein wunderbares Mittel dar, mit immer neuen Beispielen die andere, heilende Sichtweise einzuüben. Jeden Tag aufs neue bin ich dankbar dafür, dass Sie mir mit Ihrem großartigen Einsatz diese Möglichkeit bieten. Großen Dank auch an die vielen Verfasser von Beiträgen in der ganzen Welt, die mich mit solcher Offenheit an ihren Leiden teilnehmen lassen! AJ

AM: Sie schreiben, als hätten Sie sich beeilen müssen, möglichst schnell alles zu sagen, bevor man Ihnen das „Zu-Ende-Denken“ verbietet. Aber niemand kann es mehr tun, denn Sie haben alles begriffen, Sie haben die falschen, irreleitenden Botschaften durchschaut. Sie brauchen nur noch Zeit, um die Angst und die Schuldgefühle abzulegen, wie Sie jeden Morgen die verkrampften Muskeln befreien müssen. Die Angst hat diese Muskeln in der Nacht verkrampft, als sie Ihren Körper an die erfahrenen Leiden Ihrer Kindheit erinnnerte. Doch Sie sind auf dem Weg, die GANZE Wahrheit zuzulassen und sich von den seelischen „Krämpfen“ zu befreien, ohne Zweifel. Der Mut wächst mit den Erfahrungen und den Erfolgen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet