Wir brauchen Zeit
Wednesday 07 October 2009
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Liebe Frau Miller,
ich arbeite seit gut 7 Jahren intensiv mit und an mir, begleitet von einer mir sehr zugewandten, akzeptierenden, offenen, annehmenden, mitfühlenden – alles in allem kompetenten – „Seelengeburtshelferin“, wie sich selbst mal nannte. In der ganzen Zeit habe ich Vieles erneut und Manches neu durchlitten und durchlebt. Heute stehe ich da als weitestgehend kongruenter Mensch. Ich gefalle mir endlich und bin zum größten Teil mit mir zufrieden und in Frieden. Der Rest kommt noch. 😉
Vor ein paar Wochen habe ich Ihre Bücher entdeckt (teilweise geliehen von meiner „Seelengeburtshelferin“), angefangen mit dem „Drama des begabten Kindes“, gefolgt von „Am Anfang war Erziehung“ und „Das verbannte Wissen“. „Du sollst nicht merken“ lese ich gerade und „Die Revolte des Körpers“ habe ich bestellt. Bin also voll eingetaucht und finde es unglaublich erleichternd Schwarz auf Weiß zu lesen, was ich erlebt habe und wie es WIRKLICH zu sehen und verstehen ist. In gewisser Weise habe ich all dies auch durch meine Seelenarbeit schon mit Unterstützung durch meine Begleiterin gelernt, verstanden und für integrierbar machen können. Trotzdem…. In Ihren Büchern alles so komprimiert zu finden, hat noch mal eine Menge in mir in Schwingung gebracht.
Es hat dennoch auch manches erneut aufflackern lassen, was ich dann viel intensiver in mir gespürt habe. So wie in diesen Tagen zum Thema „sexueller Missbrauch“. – Ich habe vor vielen Jahren in einer 10-jährigen Beziehung mit einem Alkoholiker und sexueller Gewalt gelebt, aus der ich nicht früh genug heraus konnte. Heute weiß ich, dass ich aus früheren Erfahrungen nicht anders reagieren konnte, als zu bleiben und drum herum zu „funktionieren“. – Schon während der anfänglichen Zeit meiner Seelenarbeit kamen neben Flashbacks Gedanken an mögliche sexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Es war und blieb immer nur diffus. – Während ich jetzt das Buch „Du sollst nicht merken“ lese, in dem es ja viel um sexuellen Missbrauch geht, merke ich erneut, dass sich diese Gedanken wieder häufen. Ich bekomme mit, dass ich versuche, zwischen den Zeilen etwas über mich herauszufinden: Eine Antwort, konkrete Erinnerungen. Ich merke, dass ich sehr unruhig bin und durcheinander. Was war da? Geschah es wirklich? Zwischendurch Gedanken wie „Das bildest Du Dir ein!“ oder „Jetzt fang nicht an, etwas zu konstruieren, nur weil Du drüber liest!“ Schon oft habe ich mir Lektüre zu diesem Thema gesucht und sie immer verschlungen. Und durch das, was ich mittlerweile unter anderem auch durch Ihre Bücher gelernt habe, weiß ich, dass das verlassene innere Kind nicht vergisst, sich lautbar machen möchte – auch durch den Körper. Dennoch… Einerseits glaube ich, andererseits zweifle ich – weil ich nichts Konkretes erinnern oder benennen kann. Wenn mir wirklich sehr früh solches passiert ist, dann wäre es schon klar, dass ich keine Worte finde, da ich sie noch nicht haben konnte. Doch was kann ich tun, um „wenigstens“ an Bilder zu kommen? Ich erlebe mich verwirrt und ich versuche, mich anzustrengen, kleine Puzzleteile zu finden, die ich zusammensetzen kann. Ich MÖCHTE merken, es neu erfahren, damit ich es endlich einsortieren kann. – Oder glich der sexuelle Missbrauch in meiner Erwachsenenalter dem an einem Kind, weil ich noch so sehr mit mir in dem Alter verhaftet war?
Morgen habe ich einen schnellen Termin bekommen bei meiner Begleiterin. Darüber bin ich sehr froh, da ich schon länger keine regelmäßigen Termine mehr mache. Ich bin froh, darüber wenigstens schon mal sprechen zu können. Ich wünsche mir, dass mein inneres Kind sich morgen schon mehr öffnen kann, damit ich verstehe.
Trotzdem wünsche ich mir auch von Ihnen Gedanken dazu. Vielleicht erwarte ich zu viel für mich. Doch mir hilft es bereits, mich mit Wissenden auszutauschen. Vielen Dank darum schon mal im Voraus.
Mit herzlichem Gruß
W.O. (43 J.)
AM: Sie sind offen für die Wahrheit, und die wird sich eindeutig zeigen, wenn es für Sie richtig ist. Sie abeiten ja an Ihrer Geschichte, mehr können Sie nicht tun. Sie sollten sich nicht anstrengen, um noch mehr Wissen zu bekommen und dieses zu erzwingen, lassen Sie sich Zeit.