Meine Erinnerungen

Meine Erinnerungen
Monday 23 July 2007

Sehr geehrte Alice Miller,

am 14. Juli veröffentlichten Sie eine Replik von mir auf eine Mail an Sie aus dem vergangenen Jahr. In dieser neuerlichen Mail beschrieb ich Ahnungen und Vermutungen in Bezug auf – da habe ich noch nicht einmal das Wort niedergeschrieben, weil es so ungeheuerlich war – sexuelle Übergriffe.
Heute fiel mir aber wieder ein “Ritual” ein aus einer Zeit, zu der ich noch ein Kindergartenkind war. Ich habe zwar dieses “Ritual” bereits ein oder zwei Mal in einer Therapie erwähnt, aber ich bekam nur zu hören: “alle Kinder spielen an ihren Genitalien herum” oder “kleine Jungs betrachten gerne gegenseitig ihre Geschlechtsteile, da ist nichts dabei”. Und so habe ich dieses “Ritual” immer wieder ad acta gelegt. Ich spreche hier von “Ritual”, nicht von Episode oder Erlebnis, weil der Vorgang öfter passiert ist und wohl bis in meine frühe Schulzeit hineinreichte. Meine Erinnerung daran ist so: wenn ich irgend konnte, versuchte ich “mich nackt zu machen” – das war der Begriff, den ich dafür geprägt hatte. Ich wußte auch, daß das sich nicht gehörte und daß ich Stillschweigen bewahren mußte. Dazu, so ist meine Erinnerung, schloß ich mich selbst in der Toilette ein – mir kommt das aber seltsam vor, daß ein Kind unter sechs Jahren dieses Wissen um Verbotenes hat und sich auch bemüht, die Sache im Verborgenen zu halten, ja sogar einen eigenen Begriff dafür prägt.
Ich habe dann mit diesem Wissen einen NAchbarsjungen, der etwa zwölf Jahre alt war, längere Zeit gebeten, mir ebenfalls sein Geschlechtsteil zu zeigen, ich sei auch bereit, dasselbe zu tun. Er weigerte sich aber und ich habe ihn so lange gequält, bis er widerwillig nachgab…Zu jener Zeit war ich noch nicht einmal in der Schule.
Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich “erwischt” wurde – aber vielleicht wird jetzt eine Sache schlüssig, die ich in jener alten Mail erwähnt habe: meine Mutter hatte bereits in meiner Kindergartenzeit die Befürchtung, ich würde homosexuell werden und hat mich seitdem extrem überwacht und mit Härte behandelt. Da sie meinen Bruder, der etliche Jahre jünger ist, ohne Scham vor Entdeckung, genauso überwachte und beobachtete – ich habe sie dabei mehrfach ertappt – schließe ich, sie hat etwas entdeckt oder gesehen! Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß sie sich eine solch absurde Verdächtigung ausdachte (ich sei homosexuell oder werde es) weil sie mich einmal dabei erwischt hat, während ich mich “anfaßte”.
Aber ich kann mich – Verzeihung für den AUsdruck – ums Verrecken nicht erinnern, daß jemand anderer mich angefaßt hat oder mich zum “Nacktmachen” verleitet haben sollte.
Im Augenblick dreht sich mein ganzes Denken um dieses – ich nenne es jetzt mal – Schlüsselerlebnis… Z.Zt ist mein Therapeut in Urlaub und ich habe niemanden, an den ich mich mit dieser aufwühlenden Erinnerung wenden könnte. Für mich ist eben immer noch die Frage: Darf ich diesen Erinnerungen trauen?

AM: Selbstverständlich dürfen Sie Ihren Erinnerungen trauen, ich denke, Sie müssen es sogar, wenn Sie sich aus Ihrem fast lebenslangen, tragischen Selbstbetrug befreien wollen, um gesund zu werden.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet