„Liebe“ zu den Eltern
Saturday 21 October 2006
Liebe Alice Miller!
Ich beziehe mich auf den Leserbrief „Nich jedes Kind liebt seine Eltern“ vom 19.Oktober. Er hat mich angerührt, weil ich gerade soeben schon wieder einen richtiggehende „Liebesanfall“ auf meine Eltern hatte. Das schwelt immer irgendwie mit in mir, und das hält mich auch vom Leben ab, dieses unterschwellig ablaufende. Denn mein schlechtes Gewissen und meine Sorgen darum, daß ich ihnen „das Herz brechen“ könnte durch mein teilweises Bewußtwerden über alles, was passiert ist und meinen Kontaktabbruch zu ihnen führen dazu, daß ich leblos daher lebe, mir nicht erlaube, lebendig und aktiv mein Leben zu leben, und auch nicht unter Menschen gehen kann, sozusagen als „Buße“. Es ist also eine immerwährende Ambivalenz in mir. Heute jedoch kamen wieder die überschwallenden Gefühle von „Liebe“ zu ihnen in mir hoch, ich habe das öfters. Ich stellte mein Telefon wieder an, das monatelang aus war, damit sie mich nicht erreichen können, weinte, und dachte an ihren Tod. Ich sagte mir, ich könne ihren Tod nicht überleben, wenn ich mich nicht vorher mit ihnen versöhne, da ich sonst ihr „Herz gebrochen“ habe. Ich dachte, dann würde ich nach ihrem Tod endgültig selbst „ausgehen“, bzw. mich sogar umbringen, weil es dann eh alles keinen Zweck mehr habe. Ich wollte ihnen alles verzeihen, in dem Sinne, daß alles Krankmachende und Schlimme von ihnen ausgehend, etwas „von außen“ ist, so als ob es ein Teufel von außen ist, denen wir alle unterliegen können, sie also nichts dafür können, spaltete es damit von ihnen ab, um sie lieben zu können. Oder ich sagte mir, ich bildete mir alles nur ein. Und solche Dinge. Aber: meine Knie zitterten, alles zitterte in mir, das war immer so, wenn ich Kontakt aufnahm. Ich nahm den Kontakt nicht auf, trotz inneren Treibens, denn sie könnten ja womöglich sterben, und ich müsse mich beeilen. Oft kriege ich in solchen Momenten Ausratser auf meinen Freund, er würde mich ablenken, „nachzudenken“, denn ich fühle mich unter Druck, denke, ich sei verrückt und bilde mir alles nur ein, denn ich müsse mich mit ihnen wieder versöhnen, sonst breche ich ihr Herz, also die Welt gehe damit unter. Mein Freund ist dann „schuld“, weil er mich ablenkt. Als ich eben den Leserbrief las, kapierte ich wieder, was das ist, tatsächlich die „Liebe“ des Kindes, das überleben muß..und konnte mein Telefon wieder abschalten..
Noch was: In solchen „Liebeszuständen“ meinen Eltern gegenüber denke ich dann, Sie, und das Ourchildforum, die Aussage vom inneren Kind, und das alles sei „böse“, ich will dann nichts davon wissen, es kommt mir dann vor wie eine „Verführung zum Bösen“. Oh man, immer dieses Hin und Her.
Mit freundlichen Grüßen, Ihre k
AM: Sie schreiben oft, dass Sie vom Gefühl der Sehnsucht nach Ihren Eltern „überfallen“ werden und Ihnen gleichzeitig der Gedanke an die Begegnung Angst mache. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal über das Verhalten schizophrener Mütter zu ihren Säuglingen gelesen haben, z.B. bei dem Selbst-Psychologen Heinz Kohut, der den Begriff Selbst-Objekt gebrauchte. Es wurde bei diesen Müttern beobachtet, dass sie ihren ganz kleinen Kindern viel Zärtlichkeit geben können, sie umarmen, küssen, aber diese auch nach Belieben ablegen können und sich überhaupt um DESSEN Gefühle und Bedürfnisse nicht im Geringsten kümmern. Sie behandeln das Kind als ob es ein Teil von ihnen wäre oder ein Kuscheltierchen, aber nicht eine unabhängige Person mit einem eigenen Innenleben. Sie spielen mit ihm wie Kinder mit Puppen spielen. Ich stelle mir vor, dass sich das Kind einer solchen Mutter unter Umständen sein Leben lang nach den guten Momenten mit dieser Mutter sehnt, die es als „Liebe“ registriert hat, als die Mutter es so zärtlich streichelte.
Es ist ein schreckliches Schicksal. Denn diesem Kind wurde die Verantwortung für das Leben und das Wohlbefinden seiner Mutter aufgebürdet, es sollte nur für sie existieren. Es durfte nichts für sich genießen, nicht glücklich sein, nichts entwickeln in dieser Diskontinuität der Zuwendung, der einzige Sinn seines Lebens war das Leben der Mutter zu erhalten und ihr eine Stütze zu sein. Das war seine Mission, dafür wurde es von Geburt an programmiert. Und in der Einsamkeit wartete es auf die „guten Momente“
Wenn die erwachsene Tochter anfängt, dies zu durchschauen, bekommt sie Ängste um das Leben ihrer Mutter, die doch ohne ihr Kuscheltierchen sterben müsste. Es sind die Todesängste des Säuglings, die damals ganz und gar begründet waren, denn das Baby fühlte: „wenn ich nicht für sie da bin, wird sie sterben, dann habe ich keine Mutter und muss dann auch sterben. An mir hängt ihr Leben und daher auch meines. Aber dieses muss leer sein, darf keine Erfüllung finden, denn so will sie mich haben.“
Doch das darf nicht ewig bleiben. Das Leben der Mutter ist für die Erwachsene nicht mehr unverzichtbar. Wenn sie das verstanden hat, wird es ihr mit der Zeit langweilig sein, ihr Leben zum Dasein eines Kuscheltiers ihrer Mutter oder Ersatzmutter im Partner zu reduzieren. Sie wird versuchen, sich von der erstickenden und verdummenden Symbiose zu befreien, und dies wird ihr gelingen, sobald sie begriffen hat, dass sie zwar von Geburt an für die Rolle der Retterin ihrer Mutter bestimmt wurde, aber diese Rolle heute AUFGEBEN KANN und es heute in der Hand hat, sich ihren eigenen Bedürfnissen zuzuwenden. Und NIEMAND WIRD DARAN STERBEN MÜSSEN. Die heutige Realität ist ANDERS.