Die Kindheit wie ein KZ

Die Kindheit wie ein KZ
Friday 27 February 2009

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
in meinem Elternhaus herrschte die Atmosphäre eines Arbeitslagers und Kommunikation beschränkte sich meist auf kurze Anweisungen, denen man sofort Folge zu leisten hatte. Sie glichen Befehlen, gesprochen mit kaltem,
ungeduldigen Unterton: Ruhe hier!, Aufräumen!, Sofort herkommen! (…). Ich fürchtete das Sprechen, sprach selbst kaum ein Wort, die Sprache machte mir nichts als Angst. Roma Ligocka, die als Kind den Holocaust über-
lebte, schreibt in ihrer Autobiographie über die deutsche Sprache: “Meine Mutter kann Deutsch verstehen. Ich
hasse Deutsch. Mann muß es brüllen und es gibt nur ganz wenige Worte: Halt! Los! Schnell! Vorwärts! Komm mal her! Aufstehen! Aufmachen! Sie heißen alle das gleiche: Angst.“
“Deutsch wählen! Grenzen schließen!“ (…) war kürzlich auf Wahlplakaten zu lesen, auch hier ist mir der ver-
kümmerte Sprachgebrauch aufgefallen. Das Lesen verursachte Gefühle der Angst, ich fühlte mich bedrückt und
es überkam mich ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit.
In meiner frühen Kindheit litt ich unter großer Todesangst die nur dann etwas nachließ, wenn ich es vermochte, meine Eltern zufriedenzustellen. Gehorsamkeit, Hörigkeit und völlige Unterwerfung stellte sie zufrieden und
befreite mich für kurze Zeit von meinen enormen Ängsten!

Ich habe oft beobachtet, das viele Menschen auf einen “kalten Befehlston“ mit Gesten der Beschwichtigung oder
Unterwerfung reagieren. Wenn Gehorsamkeit und Unterwerfung in der Kindheit die Eltern zufriedenstellte, dann
ist dieses Verhalten sinnvoll, weil es ein Überleben ermöglicht und gleichzeitig auch Ängste lindern kann. So war es uns als Kindern möglich diese Ängste für kurze Zeit nicht spüren zu müssen und Erleichterung zu finden!

Unterwerfungsgesten zeigen, dazu gehörte auch die Vermeidung von direktem Blickkontakt, der von meinen Eltern als ein Akt der Aggression verstanden wurde. Wir hatten mit gesenktem Kopf und geduldig wartend vor
ihnen erscheinen müssen, dazu heißt es im Buch: “Ein Judenkind? Ich würde ihn gerne weiter anschauen, aber
ich habe Angst ihm ins Gesicht zu sehen, es ist verboten.“ (…)Roma Ligocka beschreibt hier das stundenlange Warten vor den deutschen Soldaten, die alle Bewohner des Warschauer Ghettos immer wieder “aussortierten“
(“wie eine Ware“ schreibt sie).

Für Roma Ligocka waren die deutschen Soldaten gefährliche Riesen, sie nennt sie “die Stiefelmänner“. Meinen
Vater habe ich als kleines Kind ebenso erlebt, er schlug uns täglich, einen meiner zwei Brüder oder mich, er
“suchte sich einen aus“, stürmte ins Zimmer und ging einfach auf einen von uns los. Ich versuchte immer brav
und unaufällig zu sein, um verschont zu werden. “Es gibt keine Garantie für irgendwas. Kein Recht auf irgend-
was (…) die Wahl wird getroffen. Wahlos, nach nur ihnen bekannten Mustern. Die Angst lähmt uns, denn jede
Bewegung, jedes Wort kann falsch sein. Alles ist verboten, und doch wissen wir nie genau, ob wir nicht etwas
noch Verboteneres tun.Wir versuchen, dem Stein gleich zu sein, den Mauern gleich zu sein, nicht vorhanden zu
sein.(…) schreibt Frau Ligocka und es sind Worte die auch ich gewählt hätte, müßte ich meine Gefühle und die
meiner Brüder beschreiben.

Mein Vater schlug hart zu, ging er auf einen meiner Brüder los, dann hörte ich das Klatschen der Schläge direkt
neben mir und ich glaubte sterben zu müssen, wir durften dennoch keine Regung zeigen, weil das seine Wut verschlimmerte und auch seine Schläge. Er hasste es, wenn wir weinten und uns gegenseitig trösteten, dass machte ihn rasend. Dazu heißt es im Buch: “Schreie, Schüsse, Schläge, Gebrüll. Ich möchte mir die Ohren zu-
halten, aber das ist verboten.“

Es lag keine Logik im Verhalten meiner Eltern und meine Mutter sagte Dinge wie: “Wenn du nicht (…) dann
wirst du das nicht überleben(…)“ Sie beschrieb mit Worten wie sie gedachte mich umzubringen, wenn es mir
nicht gelang beim Arzt die mir von ihr eingeblasenen Worte glaubhaft wiederzugeben. Ärzte waren gefährlich,
sie taten mir weh und sprachen mit für mich unverständlichen Worten wie: “Pneumonie, Bronchialasthma (…), sie sprachen auch vom “Sterben“. Roma Ligocka beschreibt: “Egal was ich höre, es macht mir Angst (…)
Sterben, Sterben, Sterben (…).

Die Angst war einfach überwältigend und ich würde lügen wenn sich sagen würde, ich hätte sie überwunden.
Sie hat mich gezeichnet und sie behindert mich auch heute noch sehr in meiner Lebensführung.
“Die Erfahrung der Angst und Gewalt lässt sich nicht heilen, sie begleitet Roma Ligocka bis heute (…) heißt es
im Einband und das ist der Grund, warum ich Ihnen einmal schrieb, dass wir als schwer mißhandelte Kinder
“Schwerverletzte“ sind, denn das sind wir wirklich und es braucht Zeit, uns unsere seelischen Verletzungen
ansehen zu können. Die Elemente und die Strukur der Gewalt in meinem Elternhaus gleichen denen im War-
schauer Ghetto, man kann sie in allen Diktaturen finden, die Gewalt “lebt weiter“ und Kindesmißhandlung
ist die Wurzel dieser Gewalt, genau wie Sie es in Ihren Büchern beschreiben!
Hochachtungsvoll ML

AM: Es ist ganz grauenhaft, was Sie da beschreiben, und vielleicht haben Sie recht, dass man einer solchen Kindheit nie ganz entkommen kann. Ich meine aber, dass man durch das Erkennen und die Rewolte gegen dieses Grauen doch eine Chance hat, sich von den Folgen zu befreien. Ihre Schilderung der Atmosphäre, in der Sie aufgewachsen sind, ist erschütternd, zugleich ist sie so präzise, dass es schön wäre, wenn Sie ein Buch darüber schreiben würden. Damit könnten Sie vielen die Augen öffnen für das, was sie ebenfalls erfuhren, aber vergessen wollen und mit schweren Krankheiten für dieses Vergessen bezahlen. Denn die meisten so erzogenen Kinder fürchten ihre Eltern noch bis ins hohe Alter, als ob diese immer noch ihre Peitsche bereithielten, auch wenn sie bereits lange tot sind.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet