EMDR

EMDR
Monday 21 August 2006

Liebe Alice Miller,
wenn ich die Leserbriefe lese, bin ich ganz überwältigt von der Übereinstimmung vieler erlebter Situationen (und der Emotionsblockaden) mit meinem eigenen Leben. Auch ich komme aus einem emotional geschädigten Hintergrund: Mein Vater hat meine Brüder (ich habe 5 Brüder und 1 Schwester) als Kleinkinder regelmässig auf Anweisung meiner Mutter verprügelt (mit dem Kleiderbügel, dem Teppichklopfer oder mit der blossen Hand) und ich habe daneben gesessen (wir Kinder spielten gerade ganz friedlich, als mein Vater hereinkam und sich ohne ersichtlichen Grund einen der Jungs geschnappt hat) und um mein Leben gezittert, weil ich dachte, ich sei die nächste. Ich hörte meine Brüder nur um ihr Leben schreien, sie waren noch im Vorschulalter.

Meine Mutter war sehr unzufrieden mit ihrem Leben, war Kettenraucherin und hat jeden in der Familie gegen jeden ausgespielt. Sie hatte sehr viele aussereheliche sexuelle Kontakte, die sie in unserer Wohnung “pflegte” und manchmal versuchte sie sogar, uns Kinder einzubeziehen. Mein Vater hat viel gearbeitet und hat so getan, als wüsste er von allem nichts. Sie war emotional sehr negativ zu uns, alles was wir getan haben, war falsch. Ich habe als einziges der 7 Kinder Abitur gemacht und meine Mutter hat mir nicht einmal gratuliert. Als ich dann beschloss, zu studieren, war ihr einziger Kommentar: “Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist??” und zur Diplomübergabe sind sie und mein Vater natürlich nicht erschienen. Als ich dann aus einem Auslandsaufenthalt (Auslandspraktikum und Studium, das ich selbst organisiert und finanziert habe) wiederkam und meine Eltern besuchen wollte, war ihre einzige Reaktion: “Du bist das letzte Stück Dreck, so etwas wie Dich würde ich meinem ärgsten Feind nicht als Tochter wünschen”.
– Diese “Herzlichkeiten” haben sich ununterbrochen durch meine ganze Kindheit gezogen, zum Glück konnte ich etwas Beistand durch meine Oma bekommen.
Es gab noch schlimmere Übergriffe, die ich nicht bis ins Detail schildern möchte.
Aber leider führten sie zu Eßstörungen, ich habe mich meine ganze Kindheit durch übergeben, sobald ich in eine unbekannte Situation kam, habe natürlich überhaupt kein Selbstvertrauen mitbekommen und bin – natürlich – immer nur an emotional kaputte Männer als Partner geraten.
Als ich dann tiefe Depressionen bekam, habe ich endlich den Schritt gewagt und habe eine Gesprächstherapie begonnen, in der mir überhaupt erst klar wurde, dass ich misshandelt wurde und dass ich meine Emotionen vollkommen abgespalten hatte. Aber auch nach einer Langzeittherapie kamen wir nicht an meine Emotionen heran. Und meine Therapeutin sprach zum ersten Mal an, dass ich “traumatisiert” sei. Während dieser Therapie bekam ich dann auch noch Krebs – zum Glück im Anfangsstadium, er konnte schnell entfernt werden.

Dann las ich einen Bericht über EMDR-Therapie, die erst Ende der 90-er in den USA entwickelt wurde und die bei traumatisierten Menschen eingesetzt wird. Das Ziel einer EMDR-Therapie ist, blockierte Emotionen mit dem Verstand bzw. Wissen und Emotionen von heute zu verbinden, um damit die Traumata aufzulösen. Das Erlebte wird nicht vergessen, es verliert aber den Schrecken, weil endlich die schrecklichen Emotionen “gelöst” und verarbeitet werden.
Ich habe eine EMDR-Therapeutin gesucht und bisher einige Sitzungen gehabt. In dieser Therapie sind auch viele beängstigende Situationen “wieder hochgekommen”, die mir gar nicht mehr als bedrohlich bewusst waren, die aber einen starken Einfluss auf mich hatten.
Ich war sehr überrascht, wie schnell diese Therapieform wirkt. Natürlich sind nicht alle Probleme in wenigen Sitzungen zu lösen, aber ich wünschte mir, ich hätte schon vor Jahren von dieser Therapieform gewusst, das hätte mir einiges erspart. Ich kann natürlich nicht beurteilen, ob diese Therapie allen anderen genauso hilft, aber ich hätte mir gewünscht, dass mich jemand darauf aufmerksam gemacht hätte.

Liebe Grüße, M.S.

AM: Ich bekomme neben positiven auch negative Berichte über die EMDR-Therapie. Daher möchte ich nicht, dass die Publikation Ihres Briefes als eine Werbung für diese Therapie verstanden wird. Doch wir publizieren Ihren Brief, weil er ein wichtiges Zeugnis darstellt über die Art, wie Kinder immer noch erzogen werden und was daraus entsteht. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Mut, sich mit Ihrer Wahrheit zu konfrontieren, und hoffe, dass Sie die positiven Botschaften der Therapie nicht davon abhalten, die Grausamkeit Ihrer Eltern im vollen Licht zu sehen und nichts darin zu verschönern.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet