Danke für Ihr „Dein gerettetes Leben“

Danke für Ihr „Dein gerettetes Leben“
Friday 02 November 2007

Danke für Ihr „Dein gerettetes Leben“

Liebe Frau Alice Miller,

Danke für Ihr neuestes Buch! Danke für den Titel, der die Hoffnung ausdrückt, dass wir merken dürfen und dass es Rettung gibt!

Doch ich möchte Ihnen speziell etwas zu Ihrem Vorwort schreiben, weil es so viel aussagt:

Um etwas zu verändern, schreiben Sie, „müßten die Eltern den Mut finden, dem Kind ihren Fehler einzugestehen“ (S. 11). „Diese Informationen der Eltern bedeuten für das Kind keine Offenbarung, denn sein Körper weiß all das seit langem“ (S. 12). Ja, m.E. spürt jedes Kind, wenn es verletzt wird, wenn ihm Unrecht angetan wird, wenn es gedemütigt oder nicht wahrgenommen wird, kurz, wenn es nicht geliebt wird; aber es darf all dies nicht äußern, manchmal noch nicht einmal denken. Die Verwirrung ist groß. Doch sein Körper und sein Gehirn (oft im Unbewussten) speichern die Geschehnisse. Sie werden nicht gelöscht, sondern verdrängt. Über die Gewalt wird in den Familien nicht geredet oder diskutiert. So ist das Kind in seiner emotionalen Wahrheit sehr einsam und seine „Isolation (das Alleinsein mit dem Geheimnis)“ (S. 11) ist sehr groß. Und nun schreiben Sie, um eine Krankheit oder eine Sucht zu verhindern, „bedarf es des Zugangs zu seiner Geschichte“ (S. 11). Ja, es bräuchte das Zulassen der Wahrheit, die Fakten, seine emotionale Realität, nichts anderes!

Beim Hinschauen auf diese Wahrheit geht es in erster Linie um die Information über die Vergangenheit und nicht um „eine Entschuldigung seitens der Eltern“ (S. 15). Nein, ich denke auch, es geht nicht um eine Ent-Schuldigung der schuldigen Eltern; es geht um das Seelenleben des Kindes! Gewalt in der Erziehung ist nicht entschuldbar, auch wenn die sadistischen, strengen oder zumindest unempathischen Eltern ihre Gründe gehabt haben mögen, die in deren Kindheit liegen. Ein Verständnis für deren Kindheit erklärt die kranken Verhaltensweisen dieser Eltern und könnte zu ihrer Genesung beitragen, sofern sie es wünschen. Allerdings nutzt es dem Kind nicht viel. Jeder muss seine eigene Kindheit ungeschönt so sehen, wie sie war. Hier liegt der Schlüssel zur Heilung jedes einzelnen, der Schlüssel zur Rettung!
Eine Entschuldigung ist sicher nichts Schlechtes, aber Sie meinen etwas anderes, weil es jetzt nicht um die Eltern geht. Sie schreiben zu Recht: „Der Fokus liegt beim Kind, bei seinen Gefühlen und legitimen Bedürfnissen. Wenn das Kind merkt, daß die Eltern sich dafür interessieren, wie es ihre Übergriffe empfunden hat, erlebt es eine große Entlastung“ (S. 16 f). Dann ist auch der „Aufbau einer neuen Beziehung“ (S. 17) möglich.

Leider, liebe Frau Miller, erlebe ich ein solches elterliches Verhalten in meiner allgemeinärztlichen Praxis äußerst selten. Die meisten Eltern sind mit sich beschäftigt. Selbst wenn sie ihre Taten bedauern, versuchen sie ständig, sich zu entschuldigen; sie hätten es nicht besser gewusst; sie hätten es im Grunde doch nur gut gemeint und wie bedauerlich es ist (für sie selbst), dass sie so vieles falsch gemacht haben.

Dabei ist es so wichtig, die Wahrheit zuzulassen, nichts als die Wahrheit und zu erkennen, was die Gewalt beim Kind angerichtet hat, weshalb das Kind krank wurde oder gewalttätig oder sich selbst verletzt. Es geht um die einfache Tatsache, dass die Eltern die Ursache für das Leiden ihrer Kinder sind, zuerst beim Schlagen und später als Folge in der Krankheit.

„Kinder[n], die in solchen Gesprächen erlebt haben, daß ihre Verletzungen und ihre Gefühle von ihren Eltern ernst genommen wurden und daß ihre Würde respektiert wird“ (S. 16) steht einer Heilung und einer gesunden weiteren Entwicklung nichts im Wege. Ja, nur durch das Aufdecken der Wahrheit ist eine wirkliche Heilung möglich. Alle anderen Therapien wirken nur symptomatisch, lindern hier und da, verändern aber nichts Grundsätzliches und heilen nicht: Antiagressionsprogramme, Verhaltenstherapien etc. All diese Maßnahmen können besser sein als gar keine Therapie, aber nicht viel besser. Sie können aber auch schaden, wenn nämlich nach alten Mustern verfahren wird und z.B. die Schuldzuweisung wieder aufs Kind fällt, was gar nicht so selten ist.

Nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene führt der Weg zur Heilung, zum geretteten Leben einzig über das Auffinden der Kindheitsrealität und über die „Geschichte des einst mißhandelten Kindes und dessen verleugnete Schmerzen“ (S. 18). Auch ich bin von der heilsamen Wirkung der elterlichen Einsicht ihrer Fehler überzeugt. Wenn die alten Eltern ihrem Kind die ungeschönten Informationen geben könnten über die damaligen Misshandlungen und wenn sie ihr liebloses, oft grausames Handeln ihrem Kind gegenüber eingestehen könnten, bräuchten diese ihre Krankheiten nicht mehr. Verwirrungen könnten sich auflösen. Sie schreiben zu recht auf S. 50: „Dieses Warten auf Liebe ist keine Liebe.“ Die Kinder müssen endlich aufhören dürfen, zu warten. Die meisten haben auch als Erwachsene keine liebevollen Eltern, sondern müssen sich diese Erlaubnis selbst geben. „Das Ausmaß der als Kind erfahrenen Misshandlungen lässt sich nicht auf einmal erfassen. Es bedarf eines längeren Prozesses“ (S. 62). Ja, es ist ein langer Weg. Viele gehen ihn nicht und manch einer – „mit latentem Haß aufgewachsen“ (S. 75) – wird leicht als Terrorist zur Bedrohung unserer Welt, der „einer ,tickenden Bombe‘ gleicht“ (ebd.)
Andererseits gibt es auch „eine ganze Menge von Menschen, die … an ihren Schuldgefühlen verzweifeln, um die Schuld ihrer Eltern nicht zu sehen, weil sie die Strafe für das Sehen befürchten“ (S. 144). Ich erlebe in der Praxis häufig, wie diese Menschen krank werden wegen der „latent wirksamen Angst des kleinen Kindes vor seinen gewalttätigen Eltern“ (S. 148).

Ihr letztes Kapitel „Aus dem Tagebuch einer Mutter“ zeigt deutlich, wie eine Mutter ihrer Tochter und letztlich auch sich selbst helfen kann, wenn sie die Vergangenheit nicht mehr beschönigt, sondern zulässt, mit all den Schmerzen, die damit verbunden sind. Auslöser war bei ihr der Rückzug ihrer Tochter und die Verweigerung der Tochter, weiterhin die Lasten der Mutter zu tragen (vgl. S. 298). Dadurch, dass die Mutter ihrer Tochter daraufhin die Kenntnis der Wahrheit gönnen und ihre Fehler eingestehen konnte, hatte sie selbst die Chance sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen (vgl. S. 316). Damit schließen Sie, liebe Alice Miller, den Kreis zu Ihrem Vorwort und der Forderung an die Eltern, ihren Kindern die Wahrheit über die frühen Jahre mitzuteilen.

Ein wunderbares Vorwort in einem guten Buch!

Viele liebe Grüße

Anke Diehlmann
Autorin von „Bitte … keine Gewalt“

AM: Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zu meinem letzten Buch. Sie hat mich sehr gefreut, weil Sie für mich eine Art „Expertin“ sind und weil bis heute kaum jemand auf den Inhalt dieses Buches und meinen Vorschlag im Vorwort eingegangen ist. Es herrscht noch eisiges Schweigen, weil offebar nur wenige Menschen gewohnt sind, ohne Anggst über das Verhalten der (IHRER?) Eltern zu sprechen und äußerst befangen zu sein scheinen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet