Mein Erlebnis mit der “schwarzen Pädagogik”
Friday 25 May 2007
Liebe Frau Miller,
danke kann ich gar nicht genug sagen für Ihre Bücher, die mir die Augen über meine Erziehung geöffnet haben. Ein Bericht über mein eigenes Erlebnis zur Schwarzen Pädagogik:
Der Gedenktag der hl. Luzia im Dezember ist inzwischen in Deutschland im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern (v.a. Schweden) mit keinem besonderen Brauchtum und keiner speziellen Tradition mehr verbunden. Es ist den oft düsteren und irregeleiteten Erziehungsmethoden des vorletzten Jahrhunderts anzulasten, daß ich diesbezüglich eine für mich mystische “Erscheinung” der ganz besonders bedenklichen Art hatte.
In den späten 1960er Jahren, ich war zu der Zeit ein introvertiertes, schüchternes Vorschulkind, verlangten von mir rituell jährlich wiederkehrend meine Eltern, daß ich mich am Abend des Luzia-Gedenktages im Stall unserer Landwirtschaft zu einer anonymen “Gerichtsverhandlung” der besonderen Art einfand. Die hl. Luzia sollte zu mir kommen, um zu überprüfen, ob ich auch “brav” gewesen sei. Sollte diese Kontrolle negativ für mich ausfallen, so läge mein Schicksal in deren grauenvollen, Messer-wetzenden Händen, so erschreckte man mich erzählender Weise. Das Eigenschaftswort “brav” wurde mir immer wieder als Ideal vorgebetet und hieß in seiner Bedeutung: still, ruhig, angepasst, wortkarg (den Mund haltend), folgsam, unwissend, dumm…und hieß in seiner Folge: manipulierbar, verschreckt, furchtsam, ängstlich, eingeschüchtert, ohne eigenen Willen, depressiv,…
Auf einem Bündel Stroh harrte ich an besagtem Dezember-Abend zusammen mit dem vermeintlich beschützenden Vater bei geschlossener Stalltüre auf den angekündigten Besuch der himmlischen – heute würde ich eher sagen – höllischen Abgesandten, der heiligen Luzia. Nach endlos bangen Minuten des Unheil-drohenden Wartens erklang das spannungslösende, angstvoll herbeigesehnte Pochen an der Tür. Dem kleinen, eingeschüchterten Knirps, der ich war, schlug das Herz bis zur Belastungsgrenze, als uns draußen vor der Tür ein deutlich vernehmbares Messer-wetzen zu Ohren kam. Mit der inquisitorischen Frage von draußen: “Ist der Martin (Name geändert) brav gewesen?” fand das improvisierte, niederträchtige Standgericht einen qualvollen Höhepunkt. Da mein Vater darauf jedes Mal das erlösend-befreiende “Ja” antwortete, entging ich dem drohend unheilvollen Gemetzel der “heiligen Dame”.
Jedes Jahr von neuem nahm ich mir vor, ihr durch die Schutz-bietende Fensterscheibe beim Verlassen unseres Hofes hinterher zu sehen, um meine – trotz der für mich apokalyptisch anmutenden Atmosphäre – ungetrübte kindliche Neugier zu befriedigen. Doch die durchlebte Angst paralysierte mich und hielt mich im Sitzen gefangen und ich lauschte mit prickelndem, unwohligem Grausen der Beschreibung des Vaters, der den für mich heldenvollen Blick durch’s Fenster wagte. “Ganz in Weiß und mit einem Schleier versehen”, beschrieb er mir die Heilige, die angeblich ihren Weg zu unseren Nachbarn aufgenommen hatte. Daß sie dort nie ankam, wie ich am nächsten Tage von meinen Spielgefährten erfuhr, und ich immer der Einzige war, bei dem sie ihren meuchelnden Einsatz versah, gab mir eingeschüchtertem, aber gedankenvoll-aufgewecktem Kind schon damals eine große Menge Denk-Stoff.
Der aber für mich immer noch bedenkliche Clou der Geschichte: In späteren Jahren gestand mir meine Mutter, dass sie es war, die Messer-wetzend in der Rolle einer unschuldigen Heiligen ihr eigenes Kind symbolisch mit dem Leben bedroht hat, wenn es nicht “brav” sei. Sicherlich hätte mir meine Mutter auf physischem Wege niemals etwas angetan, aber die symbolische Bedrohung bleibt wie hier sicher jeder erkennen kann unbestritten deutlich im Raum und in der Zeit stehen.
Diese grauenvolle Inszenierung führte man für mich mindestens drei bis vier Mal auf, bis ich irgendwann zusammen mit dem Christkind und dem Nikolaus deren wahres Wesen erkannte. Was ich nach all den Jahren immer noch vor mir sehe, ist das befriedigte, verschmitzte Lächeln im Antlitz meiner Eltern, die anscheinend zufrieden darüber waren, daß es ihnen wieder gelungen war, ihr ohnehin ängstliches und zurückhaltendes Kind mit dieser in meinen Augen barbarischen Aufführung zu erschrecken und auch zu beeindrucken. Die Erinnerung an dieses Ereignis schmerzt nicht mehr, aber ich empfinde es immer noch als gefühlsmäßig tödlich, daß meine Eltern die Perversität dieser finster-alttestamentarischen Inszenierung (Abraham-Isaak-Opferung) nicht einsehen wollen oder können. Auch meine ältere Schwester verteidigte oder entschuldigte dieses unmenschliche Ritual, als ich sie in erwachsenen Jahren darauf ansprach. Auch an ihr wurde es praktiziert und sie meinte nur relativ gefühlskalt, dass dies einfach der damaligen Tradition unserer Familie entsprach.Auch ihr war anscheinend der emotionelle Zugang zu dem verwehrt, was ein Kind in so einer Situation empfinden muss. Und was es vor allem empfindet, wenn des Rätsels Lösung ans Tageslicht kommt: dass die eigene Mutter das Kind mit dem Messer bedroht.
Unter dem alt-ehrwürdigen, oft fraglich verwerflichen Deckmantel der religiösen Kindeserziehung, wie meine Eltern sie (miss-)verstanden, hat wohl schon seit Menschengedenken manch zweifelhafte und Unheil-bringende Methode der Erwachsenen dafür einstehen müssen, Heranwachsende zu angepaßten, manipulierbaren Herdentieren zurück zu degenerieren – nach dem Trugschluß, daß nur ein braves, folgsames Kind als erstrebenswert angesehen wird, da es sich – oberflächlich betrachtet – problemloser in die Familie integriert.
Wenn sich solche Praktiken benutzende Eltern dann später fragen, warum sich Kinder distanziern und kein emotioneller Zugang zu ihnen besteht, dann liegt es wohl am verdrängten Schmerz der Eltern, solche Methoden unbewußt mechanisch am eigenen Kind angewandt zu haben. Der Schritt, den eigenen Schmerz zuzulassen und einzugestehen, dass diese Methode verwerflich war, würde die Tür für eine neue Eltern-Kind-Basis schaffen. Doch dieser Schritt wäre ein Schritt herunter vom Thron der authoritären Elternschaft, und dies ist mit Sicherheit kein einfacher Pfad für ältere Menschen. Aber ein gehbarer!
Mit ganz lieben, dankenden Grüßen, H. K.
AM: Vielen Dank für Ihren Brief, den wir gerne veröffentlichen. Es ist gut für Sie und für andere hilfreich, dass Sie diese perfide Art dessen, was man Erziehung nennt, durchschauen und so anschaulich schildern konnten. Unsere Leser werden daraus ersehen, wie sich ihre Eltern an ihnen für die Qualen ihrer eigenen Kindheit rächen konnten, ohne für ihre Rachewünsche Verantwortung zu übernehmen, weil ihnen der “schöne” Brauch die Erlaubnis gibt, unbewusst zu handeln. Millionen von Bräuchen in der ganzen Welt geben den Erwachsenen diese Legitimation, vor allem die Initiationsrituale, die den Kindern entsetzliche Ängste einjagen. Bei uns spielt sich dieses Theater um die Weihnachtszeit ab, wo der St.Nikolaus den Eltern hilft, ihre eigene Geschichte der Angst mit gutem Gewissen und auf Kosten ihrer Kinder gedankenlos neu zu inszenieren.