Morden, um nicht zu fühlen
Wednesday 18 March 2009
Sehr geehrte Frau Miller!
Ich warte auf das Urteil im Fall Fritzl.
Und erinnere mich während dessen daran, wie es mir ging als seine Taten bekannt wurden. Ich war völlig hysterisch, konnte den ganzen Abend nicht aufhören zu schreien.
Neben dem Verbrechen machte die Art der Berichterstattung mir schwer zu schaffen. Jedesmal wenn in den Medien die Wahrheit verleugnet wurde, wurden meine Halsschmerzen sehr sehr stark und ich humpelte auch fast zwei Wochen. Mein linker Fuß und mein Hals erinnern sich an meine Kindheit. Ich verstehe sie ja auch, habe aber dazu noch keine Bilder.
Während im Fernsehen ein nichtssagender, intellektueller Diskurs nach dem „Warum“ geführt wurde, sah ich mich im Alter von 6 Jahren brüllend und schreiend im Krankenhaus liegen, in das ich wegen psychosomatischer Beschwerden (linker Fuß) gebracht wurde. Dass ich bis zur Erschöpfung brüllte, ging den Ärzten und Schwestern auf die Nerven. Sie fragten sich zwar ebenfalls nach dem „Warum“, nur klammerten sie bei der Antwort darauf meine Mutter und meinen Vater aus.
Das war 1983 und 2008/09 war es beim Fritzl Fall nicht anders.
Nur dass bei mir jetzt ein helfender Zeuge auftaucht. Ein alter Mann durch meine Schreie berührt kommt aus seinem Zimmer langsam in mein Zimmer.
Er tröstet mich, beruhigt mich, gibt mir Schokolade und liest mir aus meinem Buch vor. Er bleibt, bis meine Mutter unterschreibt dass sie mich jetzt mitnimmt.
Ich hatte ihn vergessen, jetzt weiß ich sogar die Farbe seines Pyjamas.
In meiner jetzigen Umgebung wollte auch niemand wirklich verstehen, warum Fritzl mich so „mitnimmt.“ Einmal wurde ich mitten in einer Menschenmenge sexuell mißbraucht.
Ich stellte mich um ein Würstel an. Links, rechts, vor, hinter mir – lauter Erwachsene. Hinter mir auch der Täter. Laut schnaufend. Seine Hand unter meinem Rock.
Ich sehe hilfesuchend in die Augen der anderen Erwachsenen, die so eng bei mir stehen, dass sie mich ebenfalls berühren. Ich bin keines Wortes fähig.
Die anderen erwidern meinen Blick nicht. Sie sehen nach vor, wollen endlich ihr Würstel. Ich drehe mich zum Täter um und lächle ihn an, weil ich denke das gehört sich so.
Mir ist also völlig bewusst, dass Verbrechen an Kindern begangen werden, während die Welt wegschaut. Weil ich es leider mehr als einmal erlebt habe.
Ich hatte angst vor dem Fritzl Prozess. Ich sah sein Foto in der Zeitung und die Halsschmerzen waren sofort wieder da.
Dieses Mal erzählte ich es aber nicht denen, von denen ich schon wusste, dass sie mich nicht verstehen.
Nein, ich wandte mich an eine Person von der ich annahm, sie würde mich verstehen.
Ich wandte mich an sie, sehr geehrte Frau Miller.
Und sie waren für mich da.
Ich habe Leserbriefe an fast alle österreichischen Zeitungen geschrieben. Habe im Internet gepostet. Manches wurde veröffentlicht nachdem man es kürzte.
Leider habe ich nicht mitgezählt wie oft ich im Internet ihren Namen las. Meistens kam er begleitet von sehr leisen Worten. Die für mich aber lauter waren, als alle anderen.
Nicht alle Menschen sind blind.
Mit dem, was sie mir in „Der gefundene Schlüssel“ schrieben, schrieben sie mir etwas wonach ich mich den Reaktionen meines Körpers und meiner Gefühle nach wohl schon mein Leben lang sehnte.
Ich habe ihre mail an meinem Geburtstag erhalten und finde die Symbolik sehr passend.
Dankeschön.
Egal wie das Fritzl Urteil ausfällt, er wird trotz seinem Schuldbekenntnis das nun alle so entzückt und überrascht, weiterhin Menschen manipulieren.
Aber ich werde keinen einzigen „Fritzl“ dieser Welt mehr anlächeln.
Und schweigen werde ich auch nicht mehr.
Ich weiß gar nicht wie viele Bücher ich schon gelesen habe. Es waren sehr viele.
Viele haben Spuren in mir hinterlassen aber keines lässt sich mit ihren Werken vergleichen.
Sie benutzen so eine wohltuende, klare und einfache Sprache, dennoch habe ich manches erst nach wiederholter Lektüre verstanden, manches wartet auch noch darauf, dass ich es verstehe.
Ich finde, man kann ihnen gar nicht oft genug sagen, welch unschätzbaren Wert ihr Werk für den einzelnen und für die ganze Gesellschaft darstellt.
Ja ich weiß, es gibt viele Menschen die mit ihren Büchern nichts anfangen können.
Aber es gibt auch viele Menschen wie mich.
Ich möchte ihnen neben der Dankbarkeit die ich gegenüber ihrem Werk empfinde auch für ihren persönlichen, grenzenlosen Mut danken: Danke!
Die Geschworenen beraten immer noch.
Ich habe mein Urteil schon gefällt.
Ich stehe auf der Seite der Kinder und da bleibe ich auch und lerne aus ihren Stimmen.
Herzliche Grüße! UO
AM: Nun ist die Wartezeit vorbei. Ich bin froh, dass Sie meinen Brief und meine volle Unterstützung gerade zu Ihrem Geburtstag erhalten haben. Es war mir wichtig, Ihnen zu sagen, dass Sie den eigentlichen Grund der ganzen Sklavenhaltung erkannt haben. Und das macht Sie zur Ausnahme. Viele sprechen zwar von der schweren Kindheit, aber übersehen meistens, dass es die VERLEUGNUNG des eigenen Leidens war, die diesen Mann zu einem kaltblütigen Verbrecher machte. Das gilt auch für den Amokläufer. Ich hoffe, dass Sie auf diesem Weg weitergehen können und sich von den üblichen Meinungen nicht beirren lassen. So werden Sie noch einiges entdecken, das Ihnen hilft, die Leiden Ihrer Kindheit zu verarbeiten. Sie haben das Recht, die Wahrheit zu sehen und darüber zu schreiben. Und Sie nutzen dieses Recht. Dazu gratuliere ich Ihnen.