Die Härte

Die Härte
Saturday 29 November 2008

Liebe, sehr geschätzte Frau Miller,nachdem ich heute Nacht die letzten zwei Leserbriefe, die Sie am 26. 11. auf Ihrer Website veröffentlichten, gelesen habe und sie heute Morgen nochmals aufrief, ich aber immer noch mit deren Verdauung beschäftigt bin, möchte ich mir jetzt doch eine kleine Verdauungshilfe holen.Ihre Antworten sind sehr kurz und beim ersten Lesen erschienen sie mir unangemessen hart und einseitig. Der Versuch hinter der Wortwahl der Leserin das ganz persönliche, individuelle Problem zu entdecken, die liebevolle Verbindung also, kam mir zu kurz. Gleichzeitig sehe ich auch , dass Sie Ihre Seite nicht als Einzel-online-Therapie verstanden wissen wollen.Die Frage, die mich nun seit der Lektüre der Beiträge umtreibt ist die nach der Liebesfähigkeit des Neugeborenen und späteren Kindes. Ich glaube mich an eine Stelle in einem Ihrere Bücher erinnern zu können, an der Sie davon sprechen, dass Kinder so viel Liebe in sich tragen und diese geben möchten. Kann ich dann also davon ausgehen, dass in jedem menschlichen Gehirn die Bahnen der Liebesfähigkeit doch schon angelegt sind und sie nicht erst durch die Umgebung angelegt werden? Das Umfeld, die ersten Beziehungen bestimmen dann, was daraus wird, ob die “Trampelpfade”der Synapsenverbindungen zu “Autobahnen” werden oder ob sie mit Dornen zuwachsen, unbegehbar werden und in Vergessenheit geraten? Sollte letzteres der Fall sein, so bestünde aber die Möglichkeit sie in späterer Zeit aufzuspüren, freizulegen und auszubauen?Selbst Mutter dreier gerade erwachsen gewordener Kinder, kann ich die Leserin sehr gut verstehen, die ihr eigenes Fehlverhalten ihren Kindern gegenüber in reuevollem Ton erwähnt. Der heilsame “shift” in meiner Haltung kam erst vor ein paar Jahren – statt in die unreflektierten Verhaltensmuster der eigenen unterdrückenden Erziehung und der Weitergabe des Gefühls “Du bist im Grunde genommen nur eine Belastung, es sei denn du tust was mir nützt” konnte ich nun meine Kinder und auch mein eigenes inneres Kind als eigenständige Person wahrnehmen, ihnen mit ECHTER Aufmerksamkeit begegnen. Gestützt in meinem Bemühen, die oben erwähnten Dornen aus demWeg zu räumen und zumindest mal “Landstraßen” anzulegen, wurde ich nun im letzten halben Jahr durch die Lektüre Ihrer und der von Ihnen erwähnten Bücher, sowie weitere Querverweise, die mir beim Studium zwischenmenschlicher Verbindungen und der Entdeckung des (vielleicht) echten Verständnisses von Liebe äusserst hilfreich sind.Die zentrale Frage aber bleibt, woher kommt die Liebesfähigkeit – Anlage oder Umwelt? Ist von der Theorie der Anlage her dann nicht jeder Mensch, auch der, der nur im Klima der Heuchelei aufgewachsen ist , im Grunde genommen liebesfähig, wenn er -und sei es erst im späteren Leben-Liebe erfährt? Wäre also eine positive Reparentisierung und die Erfahrung von Liebe durch Ersatzpersonen möglich?Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, sowie Ihren Mut Ihre Überzeugung so klar in die Welt zu tragen – ich durfte feststellen, dass es auch mir die Kraft gibt, das Tabuthema Misshandlung anzusprechen das genaue Hinsehen einzufordern. Mit diesem “Danke” möchte ich schließen Angela West

AM: Ich verstehe Ihre Reaktion auf das, was Sie meine “Härte” nennen, sehr gut, aber es ist nicht leicht, einem Menschen, der Heuchelei schon mit der Muttermilch getrunken hat, zu erklären, was Heuchelei eigentlich ist. Er kennt, wie die meisten Menschen, kaum etwas anderes als Heuchelei und will auch mir deren Lügen verkaufen, wie er es von seinen (ihren) Eltern erfahren hat, Wenn ich dies nicht kaufe, ist er irritiert. Diese Reaktionen muss ich in kauf nehmen. Die Gründe meiner Weigerung, “Liebe” mit Grausamkeit zu vermischen, sind in meinen Büchern verstreut, und ich kann sie nicht hier in kurzen Briefen erklären. Wer meine Bücher wirklich gelesen und verstanden hat, versteht auch meine kurzen Antworten hier, die selbstverständlich die Lektüre der Bücher nicht ersetzen, aber manche Menschen doch zur Reflexion anregen können, die dafür offen sind. Die Bahnen der Liebesfähigkeit sind angelegt, aber sie werden leider zerstört durch Kindesmisshandlungen, die man oft Erziehung aus Liebe benennt. Die Konsequenzen sind uns bekannt. Aber wir wissen auch, dass durch das Erkennen der eigenen tragischen Wahrheit die Liebesfähigkeit eines Tages aufleuchten kann, doch niemals durch die Verleugnung dieser Wahrheit, die eben in der Heuchelei mündet.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet