Meine geretteten Kinder 2

Meine geretteten Kinder 2
Monday 26 January 2009

Liebe Frau Miller,ich habe gestern abend Ihre mail gelesen und wollte gleich darauf antworten,war aber bei lieben Freunden,einem Ehepaar, zum Kartenspielen eingeladen.Etwas abwesend legte ich die Karten ab,war ich doch in Gedanken ganz woanders.Ich dachte darüber nach,ob meine Liebe zu meinen Kindern wirklich echt und bedingungslos war und ist,und bin zu dem Ergebnis gekommen,daß sie es tatsächlich war und ist,und daß ich nicht weiß warum das so ist.Es ist einfach so.Fast möchte ich sagen,fragen Sie meine Kinder,fragen Sie insbesondere meinen ältesten Sohn.(Wenn Sie möchten,kann ich Ihnen auch ein Foto von den Dreien senden.)Aber zunächst zu Ihrer Frage,die am einfachsten zu beantworten ist.Meine drei Kinder,zwei Söhne,eine Tochter, haben alle denselben Vater.Meine Söhne sind 24 und 20 Jahre alt,meine Tochter ist 18.Meine Söhne studieren,meine Tochter lebt noch bei mir.Sie macht in Kürze das Abitur.Wir beide haben gerade eine schwere Zeit,weil insbesondere zwei Lehrerinnen alles daran setzen meine Tochter doch noch in die Knie zu zwingen.Diese armseligen Gestalten suchen ja die Herausforderung.Die meisten Kinder unterwerfen sich ihnen ja,ergeben sich kampflos,verlangen ja geradezu nach Noten und Zensuren,weil sie wissen wollen wo sie stehen.Meine Tochter lehnt diesen Wahnsinn ab,sie will sich nicht vergleichen,will nicht mit den anderen Schülern konkurrieren.In ihrer Überheblichkeit ,Borniertheit und Siegesgewißheit haben diese beiden Lehrerinnen natürlich angenommen,meine Tochter unterwerfe sich auch ganz freiwillig diesem Leistungs-und Vergleichsterror.Nun ist ihnen aufgefallen,daß da doch ein Kind,nicht in der Spur läuft,sie sozusagen an der Nase herum geführt hat,und das muß natürlich geahndet werden.Da war ihnen,lange Zeit unbemerkt,ein Schäfchen aus der Herde entwichen,und nun muß alles darangesetzt werden,dieses zurückzuführen in den Pferch.Gnade uns Gott,wenn sie bemerken sollten,daß das Lämmchen nicht ausgebüxt ist,sondern schon immer außerhalb des Pferches ein friedliches und freies (jedenfalls fast freies)Leben geführt hat.Ich befürchte,daß nun doch noch mein Einsatz gefragt ist.Die beiden Lehrerinnen lauern darauf,daß ich mich nun endlich rühre.Es irritiert sie,daß ich noch nicht bei ihnen aufgetaucht bin,gebeugten Hauptes,bereit ihnen die Füße zu küssen und um Verzeihung zu bitten für mein ungebührliches Verhalten.Vermutlich ist auch etwas durchgesickert,den Lehrern zu Ohren gebracht worden,von neidischen Müttern,denen es ganz und gar nicht paßt,daß ich mich nicht beteilige an den Diskussionen über Zensuren.Da habe ich auch eine Menge zu berichten über Mißgünstige,die hinter meinem Rücken über mich herziehen,mich scheinheilig von vorne aber umarmen,gar küssen auf die Wange.Das führt aber jetzt zu weit und würde den Rahmen sprengen. Gerade wurde ich in meinem Gedankenfluß unterbrochen durch einen Anruf von meiner Mutter.Mein Vater ist vor 5 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben.Der Abgang meines Vaters von der Bühne seines Lebens war furios und unversöhnlich.Zum allerletzten Mal hat er meinem Bruder und vor allem mir vom Totenbett aus den finalen Schlag versetzt,sozusagen den Todesstoß .Angewidert wandte er sich ein letztes Mal von uns ab.Ich sei Schuld an seinem Tod,da ich ihn nicht retten konnte.Meinen Bruder,den arbeitslosen Versager,würdigte er keines Blickes mehr.Das hat er sicherlich immer tun wollen ,meinen Bruder und mich totschlagen.Meinen Bruder hätte er auch tot geprügelt,wenn meine Mutter nicht dazwischengegangen wäre und ihn mit den Worten “Du schlägst ihn ja tot” zur Besinnung gebracht hätte.Ich habe vermutlich einfach nur Glück,daß ich noch lebe,denn wenn mein Vater seinen Haß an mir ausließ,mich verprügelte,mit Füßen trat,mich anspuckte,schreiend,tobend wie ein Wahnsinniger,jede Kontrolle über sich verlierend,schritt meine Mutter niemals ein.Sie verfolgte sein Treiben,feige wie sie war und ist,mit Genugtuung,ein triumphierendes Aufblitzen ihrer Augen nie ganz unterdrücken könnend ,oder wollend.Sie genoß es jedesmal wenn ich mich schreiend auf dem Boden wand,ich weiß es,habe es gesehen.Ich habe ihr immer in die Augen geschaut bevor sie sich von mir abwandte,gelangweilt dann am Ende,als die Show vorbei war,wenn mein Vater schnaufend und schwitzend von mir abließ .Meinem Vater habe ich nicht gewagt in die Augen zu sehen.Das hätte ihn noch mehr gereizt und erneut aufgestachelt weiter zu prügeln und Knochen zu brechen.Nachdem ich zitternd und leise schluchzend am Boden lag,mich also wieder “beruhigt” hatte,betrat meine Mutter die Bühne wieder und hatte ihren Auftritt.Es war immer das gleiche Spiel.Sie flüsterte mir zu,verschwörerisch geradezu,wie solidarisch mit mir,als hätte sie auch Prügel bekommen und nicht nur ich,ich könne nun zu meinem Vater gehen und mich bei ihm entschuldigen.Also kroch ich zu dem hin,mein Körper eine einzige Wunde,ein einziger Schmerz,um mir meine nächste Demütigung selbst abzuholen.Ich bat um Verzeihung:..Entschuldige Papi,ich will es auch nie wieder tun..Er nickte kurz,wandte sich dann ab und sprach von Stund an mindestens 3 Tage lang nicht mehr mit mir.Ignorierte mich völlig,behandelte mich wie Luft,tat als wäre ich gar nicht da.(Meist wußte ich gar nicht womit ich den Haß meines Vaters “erweckt” hatte,auch das ein Mysterium,das es zu ergründen gab.Sein Haß,sein Jähzorn schlummerten immer ganz knapp unter der Oberfläche,wie Lava,die von einer dünnen,kalten,erstarrten Kruste bedeckt ist.Bei der geringsten Berührung riß diese Kruste und es entlud sich wieder brennende Lava über mich.) Diese 3 Tage,an denen ich für meinen Vater nicht existierte waren die richtige und wahrhaftige Hölle für mich.Die Schläge fanden in einer Art Vorhölle statt wo es noch Leben gab.Wenn auch nur ein Leben voller Schmerzen..Ich schlich mich immer wieder in seine Nähe,ganz still um ihn ja nicht wieder zu verärgern und schaute ob er vielleicht seine Zeitung sinken lassen,seinen Blick wieder auf mich richten würde.Nach etwa 3-4 Tagen richtete er plötzlich wieder das Wort an mich,als sei nichts gewesen,und ich war vorerst wieder erlöst.So ging es weiter und weiter,endlos…bis ich -ich war etwa 10 Jahre alt- in meiner Panik,zum Brotmesser griff,das auf dem Tisch lag und es vor Todesangst schreiend,gegen meinen Vater richtete.Ich wartete auf den Tod,der unweigerlich kommen mußte,ich wußte ,daß er mir das Messer entreißen und es mir ins Herz stoßen würde.Ich war in wirklicher Todesangst,in Erwartung des Todes.Und trotzdem habe ich das Messer gegen dieses Ungeheuer erhoben,denn lieber wollte ich tot sein als diese Qualen,diese Demütigungen noch länger zu erdulden. Er hat mich nie wieder geschlagen..Er tötete mich nicht mal.In seinen Augen flackerte für einen kurzen Moment so etwas wie Erstaunen auf und Ratlosigkeit.Dann Resignation. Ich habe Ihnen Anfang Januar eine erste mail gesendet,in der ich über meine Affinität zu Bahngleisen berichtete.Vielleicht haben sie diese mail noch.Auch können Sie,wenn es sie interessiert im Forum bei “Margarita” nachlesen.Da habe ich das erste Mal ganz vorsichtig angefangen zu schreiben.Manches sehe ich jetzt schon wieder klarer,manches ist schon ein bißchen überholt was ich schrieb.Es ist ja erst knapp 2 Monate her,daß ich “Das Drama des begabten Kindes” das erste Mal las und dann Ihre Internetseite entdeckte.Ich bin noch mitten drin im Prozeß mein inneres Kind zu finden,mich mit meiner Kindheitsgeschichte auseinanderzusetzen.Gerade hat mir Liza geantwortet ,auf meine Überlegungen ,ob meine Großmutter meine wissende oder gar helfende Zeugin war.Liza meint sie war es nicht,sie hat mich eher noch mehr in die Opferrolle gedrängt.Von mir verlangt,mich meiner Mutter zu opfern,damit diese es bei meinem Vater nicht noch schwerer hätte.Ich muß aber irgendeinen Zeugen gehabt haben,und darüber grüble ich nun schon lange nach.Manchmal denke ich es waren die Tiere,zu denen ich in meiner Not flüchtete,von denen ich mir ein bißchen Wärme holte.Ich beobachtete die Spatzeneltern,die unermüdlich ihre Jungen fütterten,immerzu ein und aus flogen,selbst ganz dünn wurden und trotzdem alles ihren Kindern gaben.Ich schaute mir die Pflänzchen an,die beschützt von den Ästen und Blättern der Elternbäume heranwuchsen.Die Pflanzen brauchten Regen,dessen Härte durch das Astwerk abgemildert wurde und ganz langsam auf die Pflänzchen tropfte.Ich sah in der Natur wie Pflanzen-und Tiereltern ihre Kinder liebevoll umsorgten und ihnen Schutz gaben.Da ich aber nicht wußte was Liebe ist konnte ich es ja eigentlich auch nicht als solche empfinden?? ?Es muß also doch meine Großmutter gewesen sein,die zumindest meine wissende Zeugin war.Ich durfte hin und wieder am Wochendende zu ihr.Ich schlief bei ihr mit in ihrem Bett,sie machte mir Tee und Käsebrote und spielte mit mir Karten.Wenigstens einen Tag lang war ich in Sicherheit und wurde umsorgt.Dann schickte sie mich wieder zu meinen Eltern,ermahnte mich still zu sein,still zu halten,damit es meine Mutter nicht noch schlechter hätte bei meinem Vater als ohnehin schon.Ich hatte noch nicht bemerkt,daß meine Mutter es bei meinem Vater schlecht hatte.Er schlug sie nicht. Oder waren es die Märchenbücher aus denen uns mein Vater hin und wieder vorlas,wenn er gut gelaunt war.In den Märchen siegte das Gute immer über das Böse.Die Bücher eröffneten mir eine andere Welt,ich versuchte mir das Lesen selbst beizubringen,weiß auch jetzt wieder,daß ich mit dem Finger unter den Wörtern entlangfuhr.Aber ich schaffte es nicht die Worte selbst zu lesen,wie auch,ich bildete mir ein lesen zu können,ich hatte aber nur auswendig gelernt,indem ich mir jedes Wort einprägte,das mein Vater mir vorlas.Ich bat auch immer darum mir dasselbe Märchen vorzulesen,wohl um weiter auswendig lernen zu können.Als ich endlich in die Schule kam,und lesen gelernt hatte,ging ich in die Schulbücherei und lieh mir Bücher aus.Es eröffnete sich mir eine andere Welt.Ich schuf mir wohl auch meine eigene Phantasiewelt,in der es gute Eltern,starke und mutige Mädchen und Jungen gab.Ich baute mir meine Phantasiewelt eigentlich nur weiter aus,denn in eine andere Welt hatte ich mich immer wieder geflüchtet solange ich denken kann.Sobald ich meine Hausaufgaben gemacht hatte,tauchte ich ein in die andere,schöne und richtige Welt.Es mußte neben der grausamen,kalten Einöde in der ich lebte noch eine andere Welt geben,das Paradies sozusagen.Das hatte ich in der Kinderbibel gelesen,daß es das Paradies gäbe,wo Milch und Honig flossen,wo Ruhe und Frieden herrschte.Später fragte ich mich natürlich auch,weshalb es verboten war den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen.Und auch wie denn alle die vielen Menschen auf die Erde gekommen waren,wenn es denn am Anfang nur Adam und Eva gegeben hatte.Da ich aber wußte,daß die Wege des Herrn unergründlich sind und man auch nicht nachfragen durfte,beschloß ich für mich,daß das Alte Testament nicht richtig überliefert sein konnte,daß der Schreiber sich da auch etwas ausgedacht hatte,ja ,daß es womöglich der Teufel selbst war,der es geschrieben hatte,um die Menschen an der Nase herum zu führen und sie glauben zu machen,es gäbe keinen liebenden Gott.Ich wandte mich dem Neuen Testament zu.Hier war mir sehr viel wohler,denn hier gab es den “lieben Gott” und Jesus und dessen gute Taten. Jetzt bin ich in meinen Überlegungen warum ich meine Kinder vom ersten Augenblick an liebte,und beschützen wollte und mußte,noch nicht viel weiter gekommen.Wie bei den Tieren gibt es sicher einen angeborenen Beschützerinstinkt.Vielleicht lag es an der völligen Emotionslosigkeit meiner Eltern,die bis auf die unerwartet und häufig auftretenden Eruptionen ihres Hasses mich gänzlich in Frieden ließen.Mich emotional gänzlich in Frieden ließen.Zu essen bekam ich ja,wenngleich ich lange Zeit die Nahrungsaufnahme verweigerte.Entweder wollte ich von den Monstern nichts annehmen was gut war,oder ich wollte schlicht und einfach verhungern,um endlich Ruhe zu haben.Märchen wurden auch vorgelesen,aber auch da erinnere ich mich an keine Emotionen,außer daß ich immer auf der Hut war und mich ganz still verhielt,denn auch mitten im Vorlesen konnte es Prügel geben.Die Stimmung konnte also schlagartig kippen. Vielleicht hatte ich in meiner Großmutter doch meine wissende Zeugin. Vielleicht war ich auch nur emotional so verwahrlost,daß ich weder Haß noch Liebe empfinden konnte,nur Angst und immer Angst und Mitleid mit allem und jedem,mit allen geschlagenen Kindern um mich herum,mit allen geschlagenen und ermordeten Tieren.Denn das habe ich vergessen zu schreiben,daß ich als Kind fast wahnsinnig war vor Angst und Mitleid. Ihre vom vielen Nachdenken erschöpfte G.H.

AM: Danke für Ihre Ergänzungen. Jetzt ist das Bild klar. Ihre Großmutter war kaum ein wissender Zeuge, aber SIE selbst waren es. Im Gegensatz zu den meisten misshandelten Kindern haben Sie die Kraft gehabt, Ihre Eltern nicht zu idealisieren, die Wahrheit nicht völlig zu verleugnen und Ihre bittere Realität zu erkennen, vielleicht dank der bloßen Gegenwart einer Großmutter, die weniger bedrohlich war als Ihre Eltern. Ihre eigene Klarheit hat Ihnen geholfen, den Horror Ihrer Kindheit nicht bei Ihren Kindern zu wiederholen und ihnen Liebe zu schenken. Es ist die Verleugnung unseres Leidens, die uns daran hindert, unseren Kindern das zu geben, was wir so gerne geben wollen, aber nicht können, solange wir angst haben, unsere Wahrheit zu kennen. Durch Ihre Treue zur Wahrheit haben Sie Ihre Kinder “gerettet”.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet