Olivier Maurel an Harald Welzer

Olivier Maurel an Harald Welzer
Sunday 27 January 2008

Barbara: Es hat mich betroffen gemacht, den schlüssigen Brief von Olivier Maurel zu lesen, und ich kann nicht glauben, daß man die Ursachen der gewalttätigen deutschen Geschichte in einem Buch, das behauptet, es wäre “normal”, solche Verbrechen zu begehen, derartig verkennt und verharmlost. Der Gebrauch dieses Wortes ist auch irreführend, als ob man die Vergangenheit und die Verursacher ihres Grauens apologetisch hinweg erklären will. Doch wir müssen aus der Geschichte lernen und uns der Wahrheit stellen, daß das, was Kindern angetan wird, in ihren Gehirnen gespeichert bleibt und wie eine tickende Zeitbombe darauf wartet, abberufen und in gewissenlose, skrupellose Taten von machtbesessenen, gefährlichen Politikern umgesetzt zu werden.

Es ist erschreckend, daß Harald Welzer zwar Alice Millers Werk erwähnt, jedoch ihre Forschungen und Erkenntnisse überhaupt nicht wahrzunehmen scheint, als ob die Grausamkeit der angeblich “normalen Menschen” das normalste Geschehen der Welt wäre. Alice Miller hat, vor allem in ihrem Buch “Wege des Lebens”, klar aufgezeigt, wie es durch die unmenschliche und eben ganz und gar nicht “normale” Behandlung von Kindern zum Holocaust und grausigen Verbrechen in Deutschland kommen konnte.
(Siehe: Leseprobe aus: “Wege des Lebens”, aus dem Kapitel “Wie entsteht Hass?
und auch: “Was ist Hass”, Artikel auf alice-miller.com)

Der Brief von Olivier Maurel stellt einleuchtend und überzeugend die Unlogik und die Gefahren dieser nichts-wissen-wollenden, unbedarften Sichtweise dar und ist im Folgenden abgedruckt.

Sehr geehrter Herr Welzer,
ich habe mit großem Interesse Ihr Buch «Die Täter» (Les Executeur) in französischer Sprache gelesen, habe darin viele interessante Analysen gefunden, die das ergänzt oder korrigiert haben, was ich von Browning und Goldhagen schon wusste.
Aber in einem grundsätzlichen Punkt teile ich Ihre Sichtweise nicht. Ich bin sogar sehr erstaunt, dass Sie, als Leser von Alice Millers «Am Anfang war Erziehung», das auch in einer Fußnote erwähnt wird, sich überhaupt nicht auf das bezogen haben, was sie geschrieben und bewiesen hat.
In der Tat schildert sie in ihrem Buch, wie Deutschland um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts allgemein unter dem Joch einer autoritären und repressiven Erziehungsweise lebte. Fast überall in Europa und in der Welt war es üblich, die Kinder zu schlagen, aber Alice Miller weist darauf hin, dass in den deutschen Erziehungsmethoden Gewalt und Disziplin einen besonderen Platz einnahmen. Deswegen ist es verwunderlich, dass Sie es außer Betracht gelassen haben.

Sie benützen sehr oft – und das schon im Untertitel Ihres Buches – den Ausdruck «normale» oder «ganz normale Menschen», und Sie bemühen sich zu beweisen, dass diese Menschen zu Massenmördern werden können, wenn die Umstände es erlauben.
Aber kann man Menschen als «normal» bezeichnen, die als Kinder Grausamkeiten von ihren Eltern und Erziehern erleiden mussten und sie nicht in Frage gestellt haben? Natürlich sind sie insofern normal als sie den Normen der Erziehung ihrer Zeit entsprechen, aber sind sie es im Vergleich mit Kindern, denen man mit Achtung begegnet ist? Würden Sie solche Tiere als normal betrachten – zum Beispiel Hunde oder Pferde – wenn es wie durch ein Wunder möglich geworden wäre, dass ihre Eltern sie mit der selben Gewalt behandelt hätten, die die meisten deutschen Kinder in der Vornazizeit erlebt haben? Und das ihre ganze Kindheit und Jugendzeit lang, und manchmal auch nachdem sie mündig geworden sind? Würde man da nicht sagen, dass diese Tiere erkrankt seien und dass sie sich abnormal verhielten?
Heutzutage sind die Auswirkungen der erzieherischen Gewalt besser bekannt. Man weiß von ihrer Vielfältigkeit, und auch davon, dass die Schläge, die die Eltern in der Zeit der Ausformung des Gehirns austeilen, sich in seine tiefsten Schichten einprägen und auf die angeborenen Verhaltensweisen des Kindes auswirken.

Zum Vereinfachen könnte man die Individuen mit Fahrzeugen vergleichen und behaupten, dass diese Erziehung ihre Motorstärke erhöht, die Effizienz ihrer Bremsen mindert und ihre Lenkung ungenau macht.
Diese Erziehung vermehrt das Gewaltpotential der Kinder, indem sie ihnen von früh an Verhaltensmuster anbietet, die von kalter oder zorniger Gewalt geprägt sind. Da sie gezwungen sind, die Schläge ohne Reaktion hinzunehmen, staut sich in ihnen eine Wut an, die nun versuchen wird, sich an allen Sündenböcken auszulassen, die gerade zur Verfügung stehen.
Sie hat ihnen gezeigt, dass man wehrlosen Menschen sehr wohl Gewalt «zu ihrem Wohle» antun kann. Anders gesagt, sie hat ihnen gezeigt, dass es im Namen einer abstrakten Vorstellung des «Wohles» normal und günstig ist, Wehrlosen Gewalt anzutun.
Dazu beeinträchtigt diese Erziehung die Fähigkeit, mitzufühlen, die doch eines der wirksamsten Mittel darstellt, um die Gewalt zu bremsen. Um nicht allzu sehr zu leiden, oder sogar um zu überleben, müssen Kinder, die geschlagen werden, sich von ihren eigenen Gefühlen abschneiden. Aber indem sie sich gegen ihre eigenen Emotionen abhärten, härten sie sich auch gegen die Emotionen der Anderen ab, und daher kann es nicht wundernehmen, wenn sie später eines kaltblütigen Mordes fähig werden. Die Gewalt, unter der sie gelitten haben, hat zum Beispiel in ihnen auch das gründlichste und allgemeingültigste aller Prinzipien der Ethik zerstört: «Tue keinem anderen an, was du nicht wünscht, dass man es dir antut», denn die gewaltsamen Eltern haben ihnen das Gegenteil beigebracht. Diese Gewalt hat in ihnen den Urtrieb zum Schutz ihrer Jungen, ihrer Sprösslinge, zerstört, denn sie haben seit ihrer frühen Kindheit die Agressionen ihrer erwachsenen Eltern erleiden müssen. Ist es dann ein Wunder, wenn sie unter kriegerischen Umständen und mit Hilfe einer unterstützenden Ideologie des kaltblütigen Ermordens von Kindern fähig werden?
Schliesslich hat Alice Miller auch bewiesen, dass bei Kindern, die «zu ihrem Wohle» geschlagen werden, gerade der Sinn für das ethisch Richtige und die Fähigkeit, sich logisch zu orientieren, beschädigt werden, weil sie Gewalt mit etwas Gutem assoziieren und diesen Widerspruch auch akzeptieren. Kinder, bei denen die moralischen Kategorien und die Intelligenz dermaßen beeinträchtigt worden sind, können dann ohne aufzumucken oder gar mit Begeisterung den irrsinnigsten und empörendsten Reden zuhören, etwa denen von Hitler und seiner Gefolgschaft. Hinzu kommt, dass die seit der Kindheit angelernte Gewohnheit, gewaltsamen Anordnungen zu gehorchen, offensichtlich darauf vorbereitet, sich einer militärischen Disziplin und auch gewaltsamen Politikern zu unterwerfen, die die Erinnerung an die väterliche Disziplin und Persönlichkeit wachrufen.
Aus diesen Gründen glaube ich nicht, dass man behaupten kann, dass die Massenmörder «normale» Menschen waren, oder nur zwischen vielen Anführungszeichen! Auch in Ex-Jugoslawien, Ruanda und Kambodscha war die Erziehung von großer Gewalt geprägt.

Dass Sie Alice Millers Erkenntnisse außer Betracht gelassen haben, hat mich umso mehr überrascht, als Sie doch behaupten – wo Sie das Thema Selbstständigkeit anschneiden – dass »die Fähigkeit, autonom zu sein, die Erfahrung der affektiven Verbindung und des Glückes voraussetzt »! (ohne Kenntnis des dt.Textes vom Fr. übersetzt) .

Ist Ihnen die Untersuchung von Samuel und Pearl Oliner über die Erziehung von mehr als 400 «Gerechten unter den Völkern» bekannt, die eben eine bemerkenswerte Fähigkeit aufgewiesen haben, selbsttändig zu denken und zu handeln? In ihren Antworten treten folgende Punkte deutlich hervor: sie haben liebevolle Eltern gehabt, die ihnen die Nächstenliebe beigebracht haben (wahrscheinlich mehr durch ihr Beispiel als durch ihre Ermahnungen), die ihnen vertraut und eine nicht autoritäre und nicht repressive Erziehung vermittelt haben.
Wenn man Ihnen folgt, waren die Massenmörder «normale» Menschen, während die «Gerechten» eher außergewöhnliche, sich an der Grenze der Monstrosität zum Guten bewegende Persönlichkeiten waren. Müsste man jedoch nicht davon ausgehen, dass es sich bei ihnen um gewöhnliche, normale Kinder handelte, die in der Tat normale Erwachsene geworden sind, weil sie eine normale Erziehung erfahren haben, die auf ihre Persönlichkeit Rücksicht genommen hat?
Aber was es schwierig macht, die Folgen der gewaltsamen Erziehung zu berücksichtigen, ist die Tatsache, dass wir fast alle mehr oder weniger darunter gelitten haben, und dass es gerade eine ihrer ersten Auswirkungen ist, dass man sie als normal und günstig betrachtet.
Olivier Maurel, Autor des Buches «La Fessée», La Plage, 2005

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet